Ene Mehrheit der Politikerinnen und Politiker, die sich an Rednerpulten öffentlich äusserten, sprachen – zu Recht – von einer Erfolgsgeschichte, die sich mit der Wiedervereinigung verbindet. Der Fakt, dass es gelang, den Zusammenschluss unblutig zu vollziehen, die Tatsache, dass es den meisten Menschen in den neuen Bundesländern heute besser geht als zu DDR-Zeiten – das sind Wahrheiten, die für sich sprechen.
Nicht zu überhören waren freilich kritische Töne, Bedenken. Sie kamen naturgemäss hauptsächlich aus dem Osten der Bundesrepublik und machten sich anheischig, die manchmal allzu pathetischen Samstags- und Sonntagsreden mit real existierenden Unvollkommenheiten zu konfrontieren. Von Bürgern zweiter Klasse war die Rede, von der Arroganz vieler Wessis gegenüber ihren neuen Mitbürgern, von Ungleichheiten aller Art. «Zusammenwachsen» müsse das Land, so die gebetsmühlenartig vorgetragene Forderung seitens der regierenden Parteien.
Keine einfache Sache, wenn man sich die unterschiedlichen Voraussetzungen für die beiden Partner vor Augen hält: hier das grosse und mächtige Westdeutschland, das nach der Wende grosso modo wirtschaftlich und gesellschaftlich weitermachte wie bisher: dort Ostdeutschland, dessen Bürger am 3. Oktober 1990 gewissermassen eine neue Existenz übergestülpt bekamen.
In einem Interview mit der «ZEIT» schlägt der in der DDR geborene Intendant der Berliner Festspiele und Buchautor Thomas Oberender eine kleine sprachliche Korrektur vor, die das Problem entschärfen könnte. Nicht zusammenwachsen sollen Ost und West sondern zusammen wachsen. Eine hellsichtige Überlegung. Es gibt in Deutschland genügend Spielraum für verschieden ausgeprägte, regionale Besonderheiten. Bayern, Preussen, Schwaben bewahren ihre Eigenständigkeit im deutschen Staat – warum sollen nicht auch die Ostdeutschen ihre Andersartigkeit ein Stück weit beibehalten dürfen?