Wie zu erwarten war, hat die Erstürmung der israelischen Botschaft in Kairo zu einer deutlichen Verschärfung der Sicherheitspolitik der regierenden Militärjunta geführt. Am Tag nach dem Sturm auf die Botschaft wurde die Regierung vor den Militärrat zitiert. Sie soll um ihren Rücktritt ersucht haben. Doch die Militärjunta lehnte einen solchen ab.
Ausnahmezustand für ein weiteres Jahr
Nach der mehrstündigen Sitzung von Militärrat und Regierung trat der Informationsminister vor die Öffentlichkeit und erklärte, der Ausnahmezustand, unter dem Ägypten während der gesamten 30 Mubarak-Jahre regiert worden war, werde "um ein Jahr verlängert". Die Sondergerichte würden ihre Arbeit wieder aufnehmen. Sie waren es, die jede Freiheitsregung der Bevölkerung unterdrückt hatten. Seit dem Sturz Mubaraks waren diese Gerichte nicht mehr zusammengetreten.
Der Ausnahmezustand werde ausserdem durch zusätzliche Paragraphen "ergänzt", hiess es. So werde ein Erlass in das Gesetz über den Ausnahmezustand aufgenommen. In diesem Erlass werden alle Demonstrationen und Aktionen, welche die öffentliche Ruhe gefährden oder den Institutionen des Staates schaden, als Verbrechen bezeichnet. Sanktioniert werden sie mit Gefängnisstrafen und hohen Bussen.
Zurück zu den Sicherheitsgerichten Mubaraks
Aufgrund dieses Erlasses hatten die Militärgerichte seit dem Sturz Mubaraks über 10‘000 Personen festgenommen und abgeurteilt.
Doch nun dürfte die neue Regelung bedeuten, dass die Militärpolizei die angeblichen "Ruhestörer und Saboteure" festnimmt und sie „untersucht“. „Untersuchen“ bedeutet wohl in vielen Fällen, dass sie sie foltert. Dann wird die Militärpolizei sie vermutlich zu einem bereits formulierten „Geständnis“ zwingen. Anschliessend übergibt sie die Festgenommenen den wieder eingerichteten Sondergerichten, die dann das formelle Urteil sprechen.
Damit kehrt das Land zur "Ordnung" zurück, die unter Mubarak bestanden hatte. Doch es sind nicht mehr die unter Mubarak aktiven und heute diskreditierten Häscher des Innenministeriums, welche die unliebsamen Personen „untersuchen“. Jetzt ist es die Militärpolizei, die diese Aufgaben ausführt. Die Militärpolizei könnte allerdings in Zukunft wieder von den „Beamten“ des offiziell reformierten Innenministeriums „entlastet“ werden.
Verbot des ägyptischen Arms von al-Jazeera
Der Ausnahmezustand wird auch - unvermeidlich- Auswirkungen auf die Informationspolitik haben. Auch die Medien können jetzt wieder angeklagt werden, wenn sie „falsche Informationen“ verbreiten – oder solche, „welche den Staat schädigen“.
Erste Einschränkungen der Medienfreiheit wurden sofort getroffen. Der ägyptische Arm des Senders al-Jazeera, der Fernsehsendungen für Ägypten ausgestrahlt hatte, wurde geschlossen, da er bisher ohne Lizenz operiert habe. Die Sprecher des Senders betonten, sie hätten seit März mehrmals um eine Lizenz nachgesucht. Die zuständigen Behörden hätten ihnen versichert, die Lizenz werde erteilt und ihnen erklärt, sie könnten vorläufig ohne Lizenz arbeiten. Die Lizenz allerdings hätten sie nie erhalten.
Keine neuen Lizenzen für private Fernsehstationen
Die Regierung beschloss auch, gewiss auf Wunsch des Militärrates, die Gewährung von neuen Lizenzen für private Fernsehsender ab sofort einzustellen. Nach der Revolution sind Dutzende von solchen Sendern zugelassen worden. Viele Geschäftsleute und Aspiranten auf eine politische Karriere legten sich ihre eigenen Sender zu. Man kann erwarten, dass das Informationsministerium diese nun unter die Lupe nehmen wird, um dafür zu sorgen, dass nur die "zuverlässigen" unter ihnen ihre Aktivität fortsetzen werden.
Das Informationsministerium, welches seinerseits das staatliche Fernsehen betreibt, besteht zu grossen Teilen noch immer aus den Beamten, die unter Mubarak dienten und wirkten. Nur gerade die obersten Spitzen der Hierarchie wurden ausgewechselt.
Verstummtes Sprachrohr der Revolution
Al-Jazeera hatte während der ganzen Revolutionswochen die Ereignisse auf den Strassen und auf dem Tahrir-Platz , mit den Thesen und Slogans der Demonstranten ausführlich dokumentiert und in bewegten Bildern aufgezeigt. Der Sender wirkte daher als ein Sprachrohr und Multiplikationsinstrument der Aktionen und Thesen der "Revolutionäre". Den Leuten Mubaraks und allen Befürwortern des bestehenden politischen Systems war al-Jazeera dementsprechend verhasst.
Die Abschaltung des ägyptischen Arms von al-Jazeera bedeutet, dass der Sender zwar noch über die internationalen Satellitensender zu hören und zu sehen sein wird, doch dass seine lokalen, auf das ägyptische Publikum hin ausgerichteten Sendungen, die auch lokal ausgestrahlt wurden, eingestellt sind.
Eine Verschwörungstheorie in der Presse
Die ägyptische Presse ist - noch - nicht betroffen. In jenen Blättern, die nicht - wie die grössten- dem Staate gehören, konnte man in der vergangenen Woche Kommentare lesen, die behaupteten, die Militärjunta habe eine Gruppe junger Leute „ermutigt“, die israelische Botschaft zu stürmen. Damit habe die Junta Gelegenheit erhalten, gegen die „Revolution“ durchzugreifen. Als Belege für ihre Thesen zitieren diese Kommentatoren Aussagen von angeblich Beteiligten und Augenzeugen. So sollen Polizei und Militärpolizei die Erstürmung der Botschaft nicht nur toleriert, sondern die Beteiligten gar dazu angetrieben haben.
Gefeierter "Flag Man"
Geschrieben wird auch über den "Flag Man". Das ist jene Person, die schon bei einer früheren Demonstration gegen die Botschaft, ihre Fassade erklettert und die israelische Fahne durch die ägyptische ersetzt hatte. Es heisst, dieser "Flag Man" sei offiziell gefeiert worden. Der Gouverneur von Guizeh, dem Bezirk, in dem die Botschaft liegt, habe ihn ausdrücklich gelobt und ihm sowohl Arbeit wie auch eine Wohnung verschafft. Das sind Güter, die vielen Millionen Ägyptern schmerzlich fehlen und für die sie bereit wären, sogar die Fassade eines Wolkenkratzers zu erklettern!
"Augenzeugen" als Gewährsleute der Verschwörung
Andere angebliche Augenzeugen werden mit Aussagen zitiert wie: Polizeioffiziere hätten ihrem Eindringen in die Botschaft nicht nur zugeschaut, sondern sie auch dabei ermutigt und gelobt. Sie hätten sie auch nach der Erstürmung in Ruhe abziehen lassen. Erst später seien Polizeiautos und leichte Panzer eingetroffen und in die Menge auf der Strasse hineingefahren. Dies war der Beginn der Strassenschlachten vor der Botschaft.
Im Zeichen des Volkszorns?
All dies mag ganz oder teilweise oder gar nicht zutreffen. Man kann die laxe Haltung der Polizei zu Beginn des Angriffs auf die Botschaft auch dadurch erklären, dass die Junta unvorbereitet auf solche Ereignisse war. Vielleicht ist einfach die Empörung im Volk über das israelische Verhalten zum Ausbruch gekommen. Israel wollte sich nicht entschuldigen, obwohl israelische Soldaten fünf ägyptische Polizisten im Sinai erschossen hatten. Ein sechster starb später an seinen Verletzungen. Diese Empörung hatte sich vielleicht auch auf das Verhalten der Sicherheitskräfte vor der Botschaft ausgewirkt – solange, bis strengere Befehle von oben und mehr Sicherheitsleute am Ort des Geschehens eintrafen.
Wahlen während des Ausnahmezustandes
Doch was auch immer ihre ursprünglichen Absichten gewesen sein mögen: Nach dem Sturm auf die Botschaft wurde offensichtlich, dass die herrschende Militärjunta, SCAF, die Gelegenheit ergriff, um ein Sicherheitsdispositiv wieder einzuführen, das jenem Mubaraks verzweifelt ähnlich sieht.
Dieses Sicherheitssystem soll ein weiteres Jahr lang in Kraft bleiben. Doch die Wahlen sollen nicht verschoben werden. Dies wurde in der gemeinsamen Sitzung zwischen Militärjunta und Regierung entschieden. Die Wahl-Termine wurden endgültig festgelegt.
Unter- und Oberhauswahlen sollen noch im November stattfinden. Aus dem gewählten Parlament will dann die Militärjunta eine Verfassungsgebende Kommission von 100 Personen bestimmen, zu der auch einige Persönlichkeiten von Nicht-Parlamentariern gehören werden. Diese Kommission muss die neue ägyptische Verfassung formulieren. Diese Verfassung soll dann spätestens in einem Jahr fertig gestellt werden.
Ein Wahlgesetz zugunsten der Konservativen
Es gibt bereits ein einseitig von der Junta dekretiertes Wahlgesetz, das auf heftigen Widerspruch vieler der neu gebildeten politischen Gruppen und Parteien gestossen ist. Es sieht vor, dass die Hälfte der zu wählenden Parlamentarier als unabhängige Einzelpersonen zu wählen sind. Die andere Hälfte soll über Listen, die die Parteien aufstellen, gewählt werden. Trotz der Proteste hat die Militärjunta diese Regelung beibehalten.
Beobachter nehmen an, dass dadurch die konservativen Kräfte begünstigen werden. Denn wer als Einzelperson gewählt werden will, muss wohl eine schon bekannte Persönlichkeit sein. Zu diesem Kreis gehören entweder Vertreter und Parteigänger der Muslim-Brüder – oder lokal einflussreiche und angesehene "starke Männer" mit viel Geld, Landbesitz oder Unternehmen, deren Arbeiter von ihnen abhängen. Viele von ihnen könnten daher zu den schon unter Mubarak einflussreichen, finanziell und politisch privilegierten Kreisen gehören.
Verbot ausländischer Wahlbeobachter
Die Junta hat auch bereits entschieden, dass bei den Wahlen keine ausländischen Wahlbeobachter zugelassen werden. Dagegen haben Parteien und Politiker laut protestiert. Sie betonten, internationale Beobachter seien „keine Befleckung der nationalen Ehre Ägyptens“. Doch die Junta ist nicht auf ihren Entscheid zurückgekommen.
Noch einmal zurück auf den Befreiungsplatz
Am vergangenen Freitag haben die Demonstranten, ungeachtet der neuen Vorschriften und gesetzlichen Regelungen, einmal mehr auf dem Tahrir-Platz demonstriert.
Ihr Hauptslogan richtete sich gegen die Verlängerung des Ausnahmezustandes. Doch dieser dürfte schwerlich rückgängig gemacht werden. Die Demonstrationen waren viel kleiner als während der Revolutionsbegeisterung. Die Muslim-Brüder hatten sich nicht daran beteiligt. Doch interessanterweise haben die salafistischen Islamisten-Gruppen offiziell teilgenommen. Auch sie fürchten offensichtlich, dass die Wahlen unter dem Ausnahmezustand stattfinden sollen. Die Muslim-Brüder hingegen sind bereit, dies in Kauf zu nehmen. Sie gelten als die bestorganisierte aller Gruppierungen. Sie haben bereits begonnen, sich konsequent und intensiv auf die Wahlen vorzubereiten. Sie erhoffen sich von dem Urnengang einen für sie günstigen Ausgang.
Geheimes Bündnis von Militärjunta und Muslim-Brüder?
Auch da gibt es in Zeitungen und auf Spruchbändern der Demonstranten Andeutungen und Kommentare. Sie besagen, dass die Muslim-Brüder und die Militärjunta „ein geheimes Bündnis“ geschlossen hätten.
Sogar wenn dies nicht stimmt, ist dennoch sichtbar, dass beide am gleichen Strick ziehen. Beide wollen die Wahlen rasch hinter sich bringen. Die Offiziere, um ihre frühere Machtposition soweit wie möglich wieder einzunehmen - und die Muslim-Brüder in der Hoffnung, einen bedeutenden Teil der künftigen Parlamentarier zu stellen.
Die Streikwelle breitet sich aus
Streiks gehen vielerorts weiter. In diesen Tagen nach dem Schulbeginn nach den Sommerferien, haben sie sich auch auf viele Schulen und Universitäten ausgedehnt. Im Gegenzug hat die Regierung einen "Sicherheitsplan für Schulen" entworfen. Zumindest in der Hauptstadt wird jeder Schule fünf Polizeiautos mit Besatzung zugeteilt.
Es ist nicht zu übersehen, dass die Regierung nun über die gesetzliche Handhabung verfügt, um alle Proteste und Streiks niederzuschlagen. Die Regierung steht als eine Art Puffer zwischen Bevölkerung und Militärjunta. Wahrscheinlich ist sie nicht besonders erpicht darauf, sofort und überall mit aller Gewalt Grabesruhe zu erzwingen. Doch die Militärs werden darauf dringen, dass die ägyptische Gesellschaft "diszipliniert" werde. Sie haben das letzte Wort, nicht die Regierung.
Ein neuer "Sicherheitsstaat"?
Das alles wird zumindest solange so bleiben, bis Ägypten einen neuen Präsidenten hat. Dieser wäre vom Volk zu wählen, aber erst nachdem die neue Verfassung vorliegt. Das heisst frühestens im November 2012, aber wahrscheinlich etwas später.
Die Haltung der Offiziere zeigt, dass sie ihre Verantwortung als kollektiver aber provisorischer Souverän über das "revolutionäre" Ägypten möglichst rasch loswerden wollen. Oder, sie wollen ihre Stellung festigen und legitimieren, indem einer von ihnen zum Präsidenten gewählt wird. Das Land wurde seit 1952 immer von ehemaligen Offizieren regiert.
**Armeeherrschaft, aber nicht mehr für lange…*
Obwohl die Militärjunta die Sicherheitspolitk Mubaraks nun wieder weiterführt, ist nicht zu erwarten, dass das Mubarak-Regime mit seiner erdrückenden Machtfülle zurückkehren wird. Viel wird vom künftig zu wählenden Präsidenten abhängen - falls er dann wirklich wie vorgesehen vom Volk gewählt wird. Wahrscheinlich gibt es innerhalb der Militärjunta auch verschiedene Meinungen und Tendenzen. Dies, obwohl gegen aussen die Spitzenoffiziere geeint auftreten. Auch innerhalb der Armee dürfte es Generationenprobleme geben.
Am wichtigsten jedoch dürfte der Einfluss der jungen Generation im zivilen Bereich werden. In Ägypten gibt es eine riesige Kluft zwischen einer dünnen und reichen Oberschicht und einer verarmten und weiter verarmenden breiten Unterschicht. Die jüngere Generation ist sich einig darin, dass sich das ändern müsse. Dem stimmen alle zu: die jüngeren unter den muslimischen Aktivisten, die Salafiya, die Muslim-Brüder, die Gewerkschaften und Arbeiter sowie die Vertreter der "modern" ausgerichteten jungen Eliten.
Immer noch Chancen für demokratischen Neubeginn
Man kann daher immer noch hoffen, dass trotz des nun wieder belebten Sicherheitsapparates genügend Bewegungsfreiheit für diese erwachte Jugend übrig bleiben wird, um echte Wahlen durchzusetzen und ein Parlament hervorzubringen, das über Legitimität und Autorität verfügt. Es wäre damit ein bedeutsames Gegengewicht zur Macht und dem Prestige der Armee.