Der Richter verbrämte seinen Freispruch des früheren ägyptischen Präsidenten, seiner beiden Söhne, des früheren Innenministers Habib al-Adli und anderer mit einer religiösen Aura: er selbst, sagte er, werde demnächst vor seinen Gott treten, und er gedenke der Hunderten von Märtyrern – damit meinte er die während der Revolution von 2011 getöteten Demonstranten – und deren Angehörigen. Dann dankte er Staatsanwaltschaft (welche die Todesstrafe gefordert hatte) und Verteidigung (welche auf Freispruch plädierte) für die gute Zusammenarbeit und übergab jeweils Dankesbriefe. Schließlich ermahnte er die Medien, sein Urteil nicht zu bewerten bevor sie nicht die über 240 Seiten mit den Kernsätzen seines Urteils gelesen hätten.
Solchermaßen vorbereitet, erklärte er alle anwesenden Angeklagten pauschal für unschuldig. Nicht verantwortlich seien sie für die über 800 Toten, welche während der Revolution vom Januar/Februar 2011 erschossen worden waren; nicht schuldig seien sie auch an der grassierenden Korruption im Lande. Und, vor allem: ein Präsident dürfe überhaupt nicht vor Gericht gestellt werden.
Alter korrupter Habitus
Sprachlos sei er, erklärte unmittelbar nach dem Verdikt Marwan Bishara, der Kommentator auf dem englischsprachigen Kanal des Fernsehsenders Al-Jazeera. Tausende von Ägyptern säßen heute im Gefängnis, nur weil sie friedlich gegen das autoritäre Regime ihres Landes demonstriert hätten. Tatsächlich hat sich am 29.November 2014 das wieder auferstandene Ancien Regime Mubaraks von aller Schuld selbst freigesprochen. Statt dessen hat es einen anderen verurteilt - das eigene Volk, das es gewagt hatte, gegen Willkür und Korruption aufzustehen. Das heiße nichts anderes, sagte ein Kommentator später, als daß alle jene, die durch Betrug und Unterschlagung Geld eingetrieben hätten, dieses nun behalten dürften und, mehr noch, im alten korrupten Habitus weiter agieren dürften. Und das heiße auch nichts anderes, als daß niemand zur Rechenschaft gezogen werde für die über 800 Toten des ägyptischen demokratischen Frühlings. “Wir sind zurück in einem tiefen schwarzen Loch, aus dem wir uns befreit zu haben glaubten“, sagte ein Ägypter dem Schreiber dieser Zeilen.
Freilich – andere waren zufrieden. Sie fühlen, daß die Revolution ihnen nur Unruhe und Instabilität und, vor allem, keinerlei Verbesserung ihres täglichen Lebens gebracht habe.
al-Sissi - autoritärer als das Original
Tatsache ist, daß die Konterrevolution gesiegt und daß sich das alte Regime voll und ganz wieder in seinen alten Positionen etabliert hat. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Menschen sagten „Tahrir maugud“ – der Tahrirplatz ist allgegenwärtig. Damit hatten sie gemeint, daß sie jederzeit, wie einst auf dem Tahrirplatz von Kairo, öffentlich ihre Meinung sagen könnten, wenn die neuen Machthaber den Kurs der Revolution verlassen sollten. „Jetzt aber“, sagt ein Ägypter, „müssen wir unsere Meinungen wieder zurückhalten, müssen Obacht geben, ob unser Nachbar nicht jemand ist, der unsere Aussagen weiter gibt.“
Hosni Mubarak ist von Abdel Fatah al-Sissi abgelöst worden – und diese Neuauflage des Mubarak-Regimes ist autoritärer, als es das Original war. In der Spätzeit der Herrschaft Mubarak gab es relativ freie, offene Kritik, Journalisten und Schriftstellern wurde ein gewisser Freiraum gewährt. Das von Al-Sissi renovierte und verschärfte Regime Mubaraks sieht diese politische Libertinage wohl als einen Fehler an – denn jeder, der heute öffentlich aufbegehrt, muß damit rechnen, eingesperrt zu werden – unter dem Vorwand, man kämpfe jetzt einen Kampf gegen den Terror, und da sei Dissens nicht zu dulden. Ein Journalist in Kairo sagt: „Unsere Presse ist heute nichts mehr als der verlängerte Arm des Geheimdienstes.“ Tatsächlich haben die Chefredakteure dem Militär versprechen müssen, nicht mehr, oder zumindest nicht mehr kritisch, über die Armee zu bnerichten.
Grabesruhe - von Schüssen unterbrochen
Währendessen sitzt der einzig frei gewählte Präsident des Landes, Mohammed Mursi, im Gefängnis. Nicht viele in Ägypten vermissen Mursi und seine Muslimbruderschaft, zu enttäuscht sind sie von der kurzen, chaotischen Amtszeit Mursis. Doch es liegt in der Logik des Herrschaftssystems Mubarak-Sissi: wer sich selber freispricht von Mord und Korruption, wird seine Gegner, in diesem Fall die Muslimbruderschaft und deren Führung, ins Gefängnis schicken und dort auch belassen. Und er wird Angehörige des eigenen Volkes hinter Gitter bringen, wenn diese abermals aufmucken sollten. Während der Revolution gegen Mubarak wurden über 800 Ägypter getötet, während des Staatsstreiches durch Al-Sissi gegen Mohammed Mursi im Sommer 2013 waren es fast 1000 Menschen, die ihr Leben ließen.
Jetzt soll wieder Ruhe einkehren in Ägypten. Stabilität, nennen das im Allgemeinen die Regierungen des Westens. Doch es ist weitgehend eine Grabesruhe, die in Ägypten herrschen wird – unterbrochen von den Schüssen von Polizei und Militär, die am vergangenen Freitag drei Demonstranten töteten, welche ihre Stimme für Mohammed Mursi, den abgesetzten Präsidenten, erhoben. Und unterbrochen von den Schüssen jener Polizisten, die am Samstagabend, etwa zehn bis zwölf Stunden nach Verkündung des Urteils, in der Innenstadt von Kairo auf Demonstranten schossen und einen von ihnen töteten.
Wieder einmal: ein Schritt zurück
Und, mehr noch: die Grabesruhe wird unterbrochen werden von den Schüssen bewaffneter Islamisten. Für diese nämlich, die schon große Teile des ägyptischen Sinai besetzt haben und sich nun „Islamischer Staat – Kanton Sinai“ nennen, kann dieses Urteil nur als Aufforderung gelten, weiter und noch intensiver gegen das verhaßte Regime Mubarak-Sissi anzukämpfen. Ebenso ist das Verdikt von Kairo ein Fanal für die in Syrien und im Irak kämpfende Terrorgruppe ISIS, ihren blutigen Feldzug gegen die alten Regime noch zu verstärken.
Konservative und reaktionäre Systeme allerdings wie die in Saudi-Arabien und in den kleinen Golfmonarchien werden aufatmen: kaum jemand wird es wohl dort in absehbarer Zeit wagen, gegen die autoritäre Herrschaft der Scheichs und der selbst ernannten Könige aufzumucken. Die arabische Welt hat, wieder einmal, einen Schritt zurück gemacht. Nur in Tunesien glimmt noch die Hoffnung, daß der Weg frei wird für eine freiere Zukunft für die Völker der Region.
Nicht reif für Demokratie?
In Israel, dem alten heimlichen Verbündeten des Systems Mubarak, wird man ebenfalls aufatmen. Schon sichert al-Sissi die Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen durch eine, so genannte Sicherheitszone. Die Häuser der dort wohnenden Ägypter werden zerstört, damit die Gefahr einer Infiltration Israels durch „Terroristen“, die vom Sinai kommen, besser bekämpft werden kann. Und: die Tunnels, durch welche von Ägypten aus die Bevölkerung von Gaza – und die Hamas – mit Lebensmitteln und Waffen versorgt wurden, sind vom Sissi-Regime geschlossen oder gar zerstört.
Manche werden argumentieren, der Freispruch Mubaraks zeige, daß Araber eben doch nicht reif seien für die Demokratie. Falsch: das Urteil zeigt lediglich, daß die alten Kräfte in Bürokratie, Polizei und Militär stärker sind als jene, die Willkür und Korruption beenden wollten. Und die Entwicklung der letzten drei Jahre zeigt auch, daß die Islamisten in Form der Muslimbruderschaft ihre Chance, Ägypten besser zu regieren, verspielt haben. Leidtragende in beiden Fällen bleibt das ägyptische Volk.