Am 3. Oktober 1990 durften sich die Deutschen wieder vereinigen – 45 Jahre nach dem von Deutschen ausgelösten und am Ende total verlorenen Krieg, 40 Jahre nach der staatlichen Spaltung. Seither ist dieser Oktobertag zwischen Flensburg und Konstanz, zwischen Rhein und Oder Nationalfeiertag.
Jedes Jahr wird dieses Fest in einem anderen Bundesland ausgerichtet. Dieses Mal war es in Dresden, der Hauptstadt des Freistaats Sachsen, dem während der vergangenen 26 „vereinigten“ Jahre in wunderbarem Glanz und grosser Schönheit aus den Trümmern des Krieges wieder erstandenen „Elbflorenz“. Welcher Ort in Deutschland wäre würdiger gewesen, den Anlass fröhlich, ausgelassen und – vor allem – sorglos zu feiern?
Zäune, Betonblöcke, Polizei
Machen wir es kurz – es ist wenigstens nichts ganz Schlimmes passiert. Die paar Demos von Pegida-Schreihälsen hier und vermummten Links-Faschisten dort, allerdings auch angezündete Polizeiautos, sind, angesichts der mittlerweile vorherrschenden explosiven Stimmungs-„Grosswetterlage“ im Lande ja schon kaum noch der Erwähnung wert. Aber kann man tatsächlich unbeschwert feiern, wenn rund 2'600 Polizisten für Sicherheit sorgen müssen, wenn vier Kilometer Zaun-Kontrollen errichtet werden müssen und 1'400 schwere Betonblöcke etwaige Attentäter (wie den in Nizza) an tödlichen Attacken hindern sollen? Diese Vorkehrungen von Politik und Sicherheitskräften sollen hier gar nicht kritisiert werden. Sie stehen vielmehr einfach für das Bild, das unser Land im Moment abgibt. Oder schlimmer – das wir, die Bürger, die Deutschen also, beim ungetrübten Blick in den Spiegel unserer Gesellschaft eigentlich sehen müssten. Vor vielen Jahren hatte das Frankfurter Osyhologen-Ehepaar Alexander und Margarete Mitscherlich über die angebliche deutsche „Unfähigkeit zum Trauern“ geschrieben. Könnte diese These nicht auch eine Umkehrung haben? Nämlich „Unfähigkeit zur Freude“?
Ja, es herrscht Unsicherheit in der Öffentlichkeit. Diese wird (zwar nicht nur, aber) weitgehend auf die Flüchtlinge und Asylsuchenden zurückgeführt, die während des vergangenen Jahres in hoher Zahl (und – richtiger Kritikpunkt – völlig unkontrolliert) ins Land gekommen sind. Unsicherheit, wiederum, erzeugt Angst. Angst vor Überfremdung, vor „dem Islam“, vor „den Anderen“ allgemein. Das soll nicht kleingeredet werden, zumal Angst und Sorgen bekanntlich ganz normale Erscheinungen im täglichen Leben sind. Aber sollte man, bevor die Ängste übermächtig werden, nicht wenigstens einmal kurz fragend in sich selbst gehen? Angst vor Überfremdung, „weil die Türken mehr Kinder kriegen als wir“. Ja, ist es denn deren Schuld, dass in unserer Gesellschaft drei oder gar mehr Kinder schon fast als unsozial gelten?
Jetzt „der Islam“. Es stimmt, unsere „westliche“, Kultur (ob religiös empfunden oder nicht) ist schon seit längerem der aggressiven Attacke einer entschlossenen islamistisch-fundamentalistischen Gruppierung ausgesetzt. Diesen Angriffen, heisst es, müssten wir „unsere Werte“ entgegenstellen. Ohne Zweifel richtig. Aber wo sind denn die von unten und aus dem Inneren unserer Gesellschaft kommenden Kräfte, die erstens diese „Werte“ (Menschenwürde, Gleichheit der Geschlechter, Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit, Gewaltmonopol des Staates usw.) hörbar benennen und, zweitens, selbst überhaupt noch wissen, auf welchen Grundlagen diese aufgebaut sind? Man braucht wirklich nicht jeden Sonntag den Gottesdienst zu besuchen, um Nächstenliebe oder (übersetzt) Solidarität zu predigen und zu praktizieren.
Was wollen wir und was nicht?
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat vor wenigen Tagen die fehlende „Selbstvergewisserung“ der Deutschen beklagt. Dieses Wortungetüm hat einen wahren Kern. Es fehlt in diesem Lande ein klares Bewusstsein für das, was wir wollen, und ebenso für das, was wir nicht wollen. Die daraus resultierende Unsicherheit wurde meist durch die Berufung auf eine angeblich notwendige „Liberalität“ und „Toleranz“ überspielt. Tatsächlich verbarg (und tut das noch immer) sich dahinter nicht selten die Feigheit, eine andere, eigene Auffassung klar zu vertreten. „Wehret den Anfängen“, lautete eine Prämisse im Römischen Recht. Und, damit zusammenhängend, eine zweite: „Und bedenket das Ende“. Inzwischen ist die, nicht zuletzt von den „Grünen“ lange besungene „Multikulti-Gesellschaft“ (Vorsängerin: Claudia Roth) in höchstem Masse dissonant klingend gescheitert.
Viele, vielleicht sogar die meisten Versäumnisse sind zweifellos der Politik zuzuschreiben. Beispiele: Zu spät, und auch dann noch viel zu wenig nachhaltig, wurde von Zuwanderern und deren Familien das Erlernen der deutschen Sprache eingefordert. Ein Disziplinierungsmittel dafür wäre die Art der staatlichen Unterstützung gewesen: Kein (oder wenigstens weniger) Geld, wenn zum Beispiel die Kinder nicht regelmässig in den Kindergarten oder die Schule geschickt werden. Dazu rigoroses Einfordern der Einhaltung deutschen Rechts und hiesiger Verfassungsnormen, und zwar ebenfalls notfalls geknüpft an Sanktionen. Stattdessen hat man zugelassen, dass (in Berlin, Duisburg, Dortmund usw.) allmählich Parallelgesellschaften mit eigenen Moral-, Rechts- und Ordnungsstrukturen entstanden, die wahrscheinlich nie mehr aufgelöst werden können. Wenn Sozialwissenschaftler mittlerweile von einer „Verwahrlosung des öffentlichen Raums“ sprechen und damit zum Beispiel die Tatsache beschreiben, dass an vielen Schulen Lehrer und auf der Strasse Polizisten schon als eine Art Freiwild gelten, dann sollten eigentlich alle Alarmsirenen heulen. Dass an diesen Missständen natürlich auch viele „Bio-Deutsche“ beteiligt sind, soll keinesfalls verschwiegen werden.
Woher kommt bloss der Hass?
Aber, aber, aber und nochmals aber – das ist keine Entschuldigung für die grauslichen Erscheinungs- und Verhaltensformen, die in diesem Lande inzwischen gang und gäbe sind. Wer die Bilder diverser Pegida-Demonstrationen anschaut, wer in die verzerrten Gesichter der Menschen – alter wie junger – blickt und die Parolen hört, der muss sich als zivilisierter Mensch fragen, woher nur dieser Hass kommt. Und wer in den (un)sozialen Netzen verfolgt, wie dort (häufig nicht einmal mehr anonym) offen zu Gewalt ohne Grenzen aufgerufen wird, den wundert nicht, dass Häuser brennen und Menschen totgeschlagen werden. Diese Enthemmung muss doch Ursachen haben. Sie kann nicht einfach erklärt werden mit der Flüchtlingswelle in den vergangenen Monaten. Die Wurzeln reichen, ohne Frage, viel länger zurück, wobei sicherlich die neuen, digitalen Medien mit ihren grenzenlosen Verbreitungs-Möglichkeiten wie ein Brandbeschleuniger wirken.
Nach dem Krieg lautete einer der geheiligten Schwüre in Deutschland „Nie wieder…!“ Nie wieder Krieg und nie wieder Intoleranz und Gewalt gegen Fremde und Fremdes. Aber auch ein zweites Versprechen galt über alle politischen, religiösen und gesellschaftlichen Kräfte hinweg: „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“. Seit dem vor allem mit dem Namen Ausschwitz verbundenen millionenfachen Morden sind über 60 Jahre vergangenen, in denen mehrere neue Generationen heranwuchsen. Ist es wirklich denkbar, dass sich das Wissen um die fürchterlichsten Fähigkeiten und Verbrechen von Menschen allmählich verflüchtigt und Platz macht für neue Schandtaten? Freiheit hin oder her! Dann, in der Tat, hätte die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann recht mit ihrer pessimistischen Erkenntnis: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“
„Schlimmer geht´s nimmer …“
Ein irischer Freund, seinerseits grosser Freund Deutschlands und der Deutschen, erläuterte einmal den in seinen Augen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Völkern: „Wenn es bei uns zu einer Katastrophe kommt (und wir hatten, bei Gott, schon so manche in unserer Geschichte), dann sagen wir ´Shit, aber es hätte noch viel schlimmer kommen können´. Wenn hingegen bei Euch in Eurem reichen, wohl geordneten Land etwas auch nur leicht von der Norm abweicht, ist das Geschrei gross: ´Um Gottes Willen, schlimmer kann es gar nicht mehr kommen!´.“ Wie recht hatte er doch. Nun ist es schon wahr, dass die Aufbauphase in Deutschland nach dem Krieg mit der heutigen Situation überhaupt nicht mehr vergleichbar ist. Aber muss das zwangsläufig bedeuten, dass damit auch Wille und Bereitschaft verschwunden sind, in die Hände zu spucken? Warum denn haben so viele Menschen Angela Merkels „Wir schaffen das!“ ausschliesslich als Zumutung, vielleicht sogar als Bedrohung verstanden und nicht als Aufforderung zum Anpacken?
Natürlich sind da, zum Glück, auch noch die Anderen – Deutsche zumeist, aber auch viele Zugewanderte. Die ungezählten Ehrenamtlichen, Freiwilligen, die Hilfsdienste, Kirchen und Sportvereine – Menschen halt, denen die Gebote der Menschlichkeit selbstverständlich sind. Sie sind und bleiben letztlich die Fundamente, auf die sich unser Gemeinwesen noch immer stützt. Und sie packen selbst dann noch an, wenn ihnen unverständliche bürokratische Hemmnisse entgegen gestellt werden. Welch ein Kontrast zu jenen Schreiern, die in völliger Verkennung der gefährlichen Situation in der DDR vor 27 Jahren heute in Dresden schreien „Wir sind das Volk“ und „Lügenpresse“. Sie berufen sich auf „Demokratie“ und „Meinungsfreiheit“. Beides gab es schon zwei Mal in Deutschland. Erinnert sich noch jemand?
Neben Ingeborg Bachmann hatte sich noch jemand Gedanken über Geschichte und deren angeblich erzieherische Wirkung gemacht: Mahatma Gandhi. „Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.“
Übrigens.: Der Autor ist (und bleibt trotz allem) ein hoffnungsloser Optimist. Für ihn ist das Glas stets halbvoll und nicht halbleer.