Libanon steht seit langem unter besonderem Druck durch den Bürgerkrieg im benachbarten Syrien. Es gibt zwischen einer und zwei Million syrischer Flüchtlinge in dem kleinen Staat von knapp fünf Millionen Einwohnern. Genaue Zahlen sind unbekannt, weil viele Flüchtlinge nicht registriert sind.
Tiefe Spaltung
Die seit Jahren bestehende tiefe Spaltung zwischen dem schiitischen Hizbullah mit seinen Verbündeten und seiner eigenen Miliz und den libanesischen Sunniten unter der Führung des im Exil lebenden Saad Hariri ist noch tiefer geworden. Dies geschah, als Hizbullah begann, seine Milizen in den Dienst des Asad Regimes zu stellen und auf seiten der syrischen Armee gegen die Aufständischen zu kämpfen.
Die libanesischen Sunniten sympathisieren mit den syrischen Rebellen, die ebenfalls mehrheitlich Sunniten sind, und manche ihrer Politiker und Geistlichen tun, was sie vermögen, um dieser Seite im syrischen Krieg zu helfen. Waffen und Geldunterstützung, oftmals mit Saudi Arabien im Hintergrund, erreichten die Aufständischen bisher oft über sunnitisch libanesische Sympathisanten und Mittelsleute.
Eine lange Regierungskrise
Libanon hat letzte Woche eine seiner vielen Regierungskrisen überwunden. Sie hatte 10 Monate lang gedauert, und sie war zustande gekommen, weil die sunnitische Seite (im libanesischen Sprachgebrauch "das Bündnis vom 14. März") sich weigerte, mit ihren schiitischen Gegenspielern innerhalb der gleichen Regierung zusammenzuarbeiten. In Libanon kennt man diese Gegenpartei als das "Bündnis vom 8. März". Ihr einseitiges Engagement im syrischen Ausland erschien dem "14 März" beinahe wie Hochverrat.
Der internationale Prozess wegen des Mordanschlags an Ministerpräsident Rafik Hariri von 2005, der in Den Haag begann, hat ebenfalls zu den Spannungen beigetragen. Die Hauptangeklagten in diesem Prozess sind Hizbullah-Mitglieder, deren Auslieferung Hizbullah ablehnt. Gegen sie wird deshalb in absentia verhandelt.
Wiedermal eine Regierung
Nach einer sehr langen Regierungskrise sahen sich die Sunniten und ihre Verbündeten veranlasst, doch wieder einer Zusammenarbeit mit den Schiiten von Hizbullah in der gleichen Regierung zuzustimmen. Eine neue Regierung wurde unumgänglich, weil im Juli das Mandat des libanesischen Präsidenten Michel Soleiman zu Ende geht und das libanesische Parlament einen neuen wählt. Der Präsident muss ein maronitischer Christ sein, dessen Person den beiden feindlichen Fronten genehm wäre.
Die libanesischen Maroniten sind gespalten. Ein grösserer Teil hat sich mit den Sunniten Hariris verbündet; ein kleinerer Teil unter dem General Michel Aoun mit den Schiiten und deren Hauptpartei, dem Hizbullah. Der bisherige Präsident Michel Soleiman, er war zuvor Armeekommandant gewesen, hat es vermocht, das gespaltene Land einigermassen zusammenzuhalten.Sein Mandat ist bereits um ein Jahr verlängert worden, weil kein Nachfolger gefunden werden konnte, der für beide Seiten annehmbar war.
Die Libanesen erinnern sich noch an ihren eigenen lang hingezogenen Bürgerkrieg (1975 bis 1991), und eines der wenigen Dinge, über die sich alle verfeindeten Parteien einig sind, ist, dass sie alle einen erneuten Absturz in den Bürgerkrieg vermeiden möchten. Dennoch kommt es immer wieder zu blutigen Untaten, die sich halb verborgene Täter von dieser oder von jener Seite zu Schulden kommen lassen: Bombenanschläge, Raketenüberfälle, Mordanschläge auf einzelne Politiker, Angriffe auf ganze Stadtviertel des einen oder des anderen Lagers und immer wieder Feuergefechte besonders in Tripolis zwischen dem Volksquartier, Bab ad-Dabbane, in dem Sunniten leben, und ihren Nachbarn, den Alawiten, die im Nebenquartier, Jebel Muhsin, siedeln.
Hizbullah abhängig vom Waffentransit durch Syrien
Die libanesischen Sunniten werfen den Kämpfern von Hizbullah vor, dass sie sich trotz bestehender Abmachungen in den Krieg des Nachbarlandes einmischen. Doch diese sind nicht gewillt, solchen Vorhaltungen Ohr zu leihen. Das Syrien Asads ist für sie überlebenswichtig, weil ihre Waffen aus Iran nach Damaskus eingeflogen werden und von dort aus - auf nicht vom libanesischen Staat kontrollierten Wegen - über die Berge nach Südlibanon geschafft werden, wo Hizbullah und seine Milizen das Sagen haben.
Israel greift solche Waffentransporte auf syrischem Territorium regelmässig mit Flugzeugen an, wenn die israelischen Agenten melden, es könnte sich um Raketen handeln, die eine allzu grosse Reichweite besitzen.Die Waffen sind für Hizbullah von überragender Wichtigkeit. Auf ihnen und auf der guten Ausbildung der an ihnen geschulten Milizen beruht die Übermacht der Hizbullah-Kämpfer über alle anderen Milizen Libanons und über die offizielle libanesiche Armee. Diese Übermacht wiederum ist es, die Hizbullah seine unangreifbare politische Position in Libanon verschafft. Sie bewirkt, dass das Land ohne Hizbullah oder gegen den Willen Hizbullahs nicht regiert werden kann. Käme Asad zu Fall, würde das auch ein Versiegen der über Syrien gelieferten Waffen bedeuten, auf denen die Macht von Hizbullah letzten Endes beruht.
"Der Staat" oder "das Volk" als Verteidiger Libanons
Bezeichnenderweise drehte sich die erste Auseinandersetzung innerhalb der neu gebildeten und aus Ministern der beiden feindlichen Lager gemischten Regierung - unter dem sunnitischen Ministerpräsidenten Tammam Salam - um das Regierungsprogramm, das dem Parlament vorgelegt werden muss. Die Sunniten traten für die Formulierung ein, "der Staat" habe das Land zu schützen. Doch die Schiiten widersprachen, sie wollten festlegen, das "libanesische Volk" sei für den Schutz des Landes verantwortlich. Dies natürlich, weil die Hizbullah Milizen nicht dem Befehl des Staates unterstehen und weil sie vorgeben, sie handelten "im Namen des Volkes".
Arsal, sunnitische Hochburg in der schiitischen Bekaa
All diese Gegensätze werden nun noch weiter zugespitzt durch Vorfälle an der äussersten Ostgrenze Libanons in und um den Flecken Arsal. Arsal ist ein Dorf von rund 42´000 Einwohnern, meist Sunniten, einige Christen darunter. Es liegt auf der Ostseite der Bekaa Ebene, tief in den Bergen des Antilibanon, welche diese Ebene von Syrien trennen. Es ist das letzte Dorf vor der syrischen Grenze. Nur eine Strasse verbindet es mit Libanon. Sie führt durch Schluchten und Berge. In allen Nachbardörfern von Arsal leben Schiiten. Sie neigen Hizbullah zu. Doch Arsal gehört zum Bündnis der libanesischen Sunniten unter Hariri.
Im syrischen Krieg hält Arsal leidenschaftlich zu den sunniischen Aufständischen. Arsal hat 52´000 sunnitische Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Sie fristen in Zeltlagern rund um den Ort ein karges Dasein. Arsal diente drei Jahre hindurch dem Nachschub der syrischen Kämpfer. Am Osthang des Antilibanons, auch in den Bergen, liegt das syrische Städtchen Yabroud. Dieser Ort war seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen von den Kämpfern der Rebellen beherrscht. Arsal bildete den Ausgangspunkt und Yabroud den Endpunkt der verschlungenen Pfade, die durch Schluchten und über Pässe nach Syrien führten und den dortigen Aufständischen Nachschub brachten - Geld, Waffen, Nahrungsmittel.
Yabroud syrisches Gegenstück zu Arsal
Yabroud liegt nah an der wichtigsten Strasse Syriens, die Damaskus mit Aleppo verbindet. Dort konnte sowohl der Verkehr der syrischen Truppen behindert, aber auch Transporte der Aufständischen nach Norden oder nach Süden geleitet werden. Doch in der vergangenen Woche ist es der syrischen Armee, unterstützt durch Hibullah Milizen, gelungen, Yabroud einzunehmen. Kämpfe, zuerst in den Bergen der Umgebung der Stadt, dann um die Stadt selbst, hatten sich Monate lang hingezogen. Den Schlusspunkt und die Besetzung der Stadt durch die syrischen Truppen soll ein Überfall der Hizbullah-Kämpfer gebracht haben, dem 13 führende Offiziere der in Yabroud operierenden Kampfgruppen erlagen. Unter ihnen ist ein wichtiger Anführer der Nusra Front, der sich Abu Azzam al-Kuwaiti nannte.
Der Fall von Yabroud kann mit jenem von Qussair, etwas weiter nördlich auf der syrischen Seite der libanesischen Grenze, vom vergangenen Juni verglichen werden. Beide Orte hatten die gleiche Bedeutung: jene von Anlaufstellen auf der syrischen Seite für die Schmuggelpfade, die aus Libanon kamen. Beider Einnahmen erfolgten mit entscheidender Hilfe von Hizbullah-Kämpfern.
Strassensperren
Aus Yabroud strömen nun neue Flüchtlinge nach Arsal, Zivilisten, jedoch möglicherweise auch Kämpfer, die aus der Stadt flohen. Die syrische Luftwaffe macht auf sie an den Berghängen der syrischen Seite Jagd. In einem der umliegenden schiiten Dörfer, Labwan, ging eine Rakete nieder. Sie tötete einen jungen Mann. Die Bewohner des Dorfes sind der Ansicht, die Rakete sei aus der Umgebung von Arsal abgeschossen worden.
Sie sperrten die Zugangsstrasse nach Arsal, über welche die 42´000 Bewohner des Fleckens und seine 52´000 Flüchtlinge aus Syrien ihre Nahrung beziehen, soweit sie nicht an den kargen Hängen von in Arsal selbst wächst. Die libanesischen Sunniten, die Arsal als eine für ihre Sache heldenhaft kämpfende Ortschaft kennen, begannen ihrerseits Strassen innerhalb Libanons durch Barrikaden zu sperren, um auf die Lage Arsals hinzuweisen. Bomben gingen in anderen -schiitischen- Ortschaften der Bekaa hoch. Es soll auch Raketen gegeben haben, die aus Syrien abgefeuert wurden.
Kommt es zu Kämpfen?
Die libanesische Armee erhielt die Aufgabe, die Strasse nach Arsal wieder zu öffnen. Dies ist ihr entweder bereits gelungen oder wird ihr demnächst gelingen. Die Aussagen darüber sind widersprüchlich. Die Gefahr ist natürlich, dass es zu Kämpfen zwischen Arsal und den schiitischen Nachbardörfern kommen könnte. Unter den in Arsal beherbergten Flüchtlingen und jenen, die nun neu dazu kommen, gibt es wahrscheinlich auch Kämpfer des syrischen Widerstandes. Beide Hauptfronten in Libanon, jene der Sunniten und die der Schiiten, könnten sich im Falle von Feindseligkeiten gezwungen sehen, ihren Freunden in der Bekaa zu Hilfe zu eilen.
Beide Seiten suchen den Krieg zu vermeiden
Der mögliche Ausbruch eines innerlibanesichen Krieges liegt jedoch nicht in den Absichten der einen oder der anderen Hauptpartei. Hizbullah hat in Syrien genügend zu tun. Manche der libanesischen Schiiten klagen ohnehin über die vielen Opfer an Menschenleben, die die Libanesen, angeführt von von Hizbullah, in den syrischen Kriegen bringen müssen. Ein Zweifrontenkrieg in Syrien und Libanon würde Hizbullah nur schwächen.
Die Sunniten ihrerseits dürften sich hüten, allzu aktiv in eine Konfrontation einzutreten, die sich gegenwärtig zum Nachteil ihrer sunnitischen Freunde und zum Vorteil des Asad-Regimes zu entwickeln scheint. Das gilt ganz besonders für eine Zeit, in der Saudi Arabien seine syrischen Aktivitäten eher zurückzunehmen als weiter zu steigern scheint. Saudi Arabien ist für die Hariri Front massgebend. Saad Hariri selbst, dessen ermordeter Vater als Unternehmer in Saudi Arabien sehr reich geworden war, hält sich manchmal in Saudi Arabien, manchmal in einer der europäischen Hauptstädte auf, weil er in Libanon seines Lebens nicht sicher sein kann.