Das Schreiben der Mariella Mehr (1947–2022) war gleichbedeutend mit dem Kampf gegen die Menschenverachtung, die sie als Jenische seit ihrer Jugend erfahren hatte. Ihre kraftvolle, oft brüskierende Sprache setzte sie immer für die Unterdrückten und Machtlosen ein. Mariella Mehr starb am 5. September in Zürich.
Sie war eine Kämpferin. Gekämpft hat sie vorwiegend für alle Jenischen, die Schweizer Roma, die als «Kinder der Landstrasse» während Jahrzehnten ihren Eltern weggenommen wurden. Und sie hat sprachmächtig gekämpft, mit Wut und mit Schmerz. Ich werde nie vergessen, wie sie 1986 mit einer Gruppe der «Radgenossenschaft der Landstrasse» eine Pressekonferenz der Pro Juventute sprengte und von Alt-Bundesrat Rudolf Friedrich, damals Stiftungsratsvorsitzender der Organisation, lautstark eine Entschuldigung forderte für das Unrecht, das Tausenden von Jenischen angetan wurde.
In ihren Büchern stand neben ihrem Erstlingswerk «Steinzeit», in dem sie traumatische Erlebnisse ihrer Jugend thematisiert, immer wieder Unrecht, das andern angetan getan wurde im Zentrum. Sie schrieb von misshandelten Kindern, Opfern von Behördengewalt, Psychiatriepatientinnen und -patienten. Sie sagt zu ihrem Schreiben: «Ich musste in meinen Büchern töten, damit ich nicht in Wirklichkeit töten musste.»
In meinem Lieblingsbuch «Zeus» erklärt die Psychiatriepatienin Rosa Zwiebelbuch – Mehrs Alter Ego – zur Frage, was das Töten für sie bedeute: «Die Befreiung, die Befreiung von dem Schmerz.» Immer wieder suchte Mariella Mehr wie in diesem Buch nach jener Gewalt, die Opfer zu Tätern und Täterinnen macht, und nahm sich dabei nicht aus. Von 1981 bis 2016 gewann sie 14 Literaturpreise für ihre Romane, Gedichtbände und Theaterstücke. Das Theaterstück «Akte M. Xenos» handelt von ihren persönlichen Erlebnissen, als man ihr als 17-jähriger junger Mutter ihr Kind wegnahm. Ein Satz aus diesem Stück, das 1986 in Bern erstmals aufgeführt wurde, begleitet mich bis heute: «Traurigkeit nistet in meinen Mundwinkeln, schreit nach einem Augenblick, den die Nacht nicht erreicht.» So habe ich Mariella Mehr auch in ihren fröhlichsten Momenten erlebt: Die Traurigkeit in ihren Mundwinkeln war immer auch dabei.
Vielen Leserinnen und Lesern war ihre heftige Sprache zu gewalttätig, vielen machten die Romane Angst. Auch im Privatleben war sie kein einfacher Mensch. Kaum jemand, der sie gut kannte, wurde nicht auch mal heftig beschimpft, wenn er oder sie nicht derselben Meinung war. Das Leben war so unfair zu ihr, dass sie das auch mal zurückgeben musste, und dies nicht nur Einzelpersonen, besonders auch der Gesellschaft.
So beginnt dann auch ihre Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde 1998 durch die Universität Basel: «Sehr geehrte Damen und Herren, vor Ihnen steht eine ‹verstimmbare, haltlose, geltungsbedürftige und moralisch schwachsinnige Psychopathin mit neurotischen Zügen und einem starken Hang zur Selbstüberschätzung, was ihr Wunsch, Schriftstellerin zu werden, beweist. In Erwägung ihrer hereditären Belastung – die Probandin gehört zur dritten Generation einer degenerierten Vagantenfamilie – kann eine dauernde Einweisung in eine psychiatrische Klinik nicht ausgeschlossen werden›.»
Sie erzählt von ihren Gutachtern, einem, der nur so lange Schach mit ihr spielte, wie er gewann, oder einem, der seine Doktorarbeit abgeschrieben hatte. Sie erzählt von ihren Akten, und sie fragt, was mit diesen Akten geschehen wird, wenn die Menschenverachtung mal wieder Oberhand gewinnt. Und sie appelliert an die Wissenschaft, Verantwortung zu übernehmen für ihre Begriffe, mit denen sie Menschen bezeichnet und zeichnet fürs Leben.
Aber Mariella Mehr hatte auch eine leise, zärtliche Seite, die in ihren Gedichten zum Ausdruck kam. In den letzten Jahren war sie krank und lebte im Pflegeheim. Gedichtet hat sie bis zum Schluss. Das folgende Gedicht stammt aus der Zeit, als sie schon spürte, dass sie nicht mehr lange leben würde.
Zugeschmerzt
Meine letzte Meile Zeit,
sinnlos, ihr lesbare Vergebung anzubieten.
Etwas wie Blut schmückt meine Hand,
als hätte ich gestern noch
im Fleisch gewühlt mit meinem Verrat am wispernden Mond.
Die Trauer zwängt sich aus den Ketten,
forscht nach der Farbe, die ich nicht trage.
Nur die Füsse, eine untrügliche Spur,
hinterlassen sich angemessen im Schnee.
Er wird zum lasterhaften Rot beim Betreten,
unbegehbar für andere.
Abgesonnen ist jedes deiner Liebesworte,
unnütz geworden Geste und Blick.
Und doch, und doch
Verspinnt mich bei
Niedrigwasser der Foenna
Eine Fee zu Kummer,
Als wäre da einer der hat,
was mir bisweilen nachts zu
sein gelingt.
Am 5. September 2022 ist Mariella Mehr im Beisein ihres Sohnes Christian Mehr friedlich gestorben. Ihre letzten Jahre hat sie in einem Pflegeheim verbracht. Am 27. Dezember wäre sie 75 Jahre alt geworden. Ihre Angst, dass die Menschenverachtung wieder Oberhand gewinnen könnte, ist aktueller denn je.
Im Limmat Verlag lieferbar sind die Titel «Daskind – Brandzauber – Angeklagt» (Romantrilogie) und «Widerworte (Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen)».
Das obige Gedicht wurde veröffentlicht in einer Kleinstauflage Italienisch-Deutsch: L’ultimo miglio di tempo, von der Galerie Bordas in Venedig/Anna Ruchat.
Die Filme von Marianne Pletscher mit Mariella Mehr können unter Play SRF oder www.mariannepletscher.ch angeschaut werden, z. B. «Jenseits der Landstrasse» (1986) und «Die Kraft aus Wut und Schmerz» (2007).