Mit diesen Worten stellte sich Rudolf Ekstein dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Franz Vranizky vor, als er 1992 anlässlich des Wien-Ottokringer 1. Mai-Zugs auf der Ehrentribüne Platz nahm. Damals war der ehemalige jüdische Flüchtling bereits 80 Jahre alt, und immer noch reiste er regelmäßig als Gastprofessor und Supervisor von Los Angeles nach Wien. Ein Brückenschlag, biografisch, historisch. Er verband, was für ihn zusammengehörig war.
1961 war der 1938 aus Wien vertriebene psychoanalytische Pädagoge und Sozialist erstmals wieder in seine ehemalige Heimatstadt gereist, 1970 wurde er als Gastredner der Freud-Vorlesung von der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung eingeladen. Seitdem ist er, gemeinsam mit seiner griechischstämmigen Frau Ruth, nahezu jährlich nach Wien gereist, solange seiner Gesundheit dies zuließ. Im Oktober 1995 erhielt er 83-jährig von der Wiener Universität ein Ehrendoktorat – im Vorfeld der Preisverleihung waren deutlich antisemitische Äußerungen eines medizinischen Professors der Universität Wien zu vernehmen.
Jeweils rechtzeitig zum 1. Mai kam Rudi Ekstein in Wien an, und kehrte dann wieder vor dem 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, nach Los Angeles zurück. Diesen Festtag verbrachte er im Kreis seiner amerikanischen Freunde, darunter zahlreiche jüdischen Emigranten aus Österreich, in seinem Haus in Los Angeles, Santa Monica. In der 10-Millionen-Stadt leben etwa 400.000 Juden.
Geboren wurde Rudolf Ekstein am 9. Februar 1912 als Kind jüdischer Eltern im Wien Sigmund Freuds. Der Vater war Buchhalter, die Mutter starb bald nach seiner Geburt. In einem Gespräch kennzeichnete Ekstein seine Einstellung zum Judentum so: „Mein Vater hatte eine gewisse Beziehung zum Judentum. Er hat als kleiner Bub im Tempel im Chor gesungen. Meine eigene Beziehung zum Judentum war schon recht abstrakt. In der Schule hatten wir dann jüdischen Religionsunterricht. Als Siebzehnjähriger habe ich eine Matura-Arbeit über „Soziale Probleme bei den Propheten“ geschrieben. Dabei habe ich versucht, eine marxistische Erklärung des Wirkens der Propheten zu geben. In Wien waren wir damals alle Sozialisten und haben uns nicht um die Religion des einen oder anderen gekümmert.“
60 Jahre nach dieser Abiturarbeit fügte er hinzu: „Als ich sechzehn Jahre alt und Sozialist war, hatte ich einen zionistischen Freund. Wir beide stritten uns unaufhörlich. In einem Schulaufsatz schrieb ich, dass sich weder Zionismus noch Sozialismus in ihrer reinen Form jemals verwirklichen lassen werden. Aber ich fügte hinzu, dass etwas anderes viel wichtiger sei. Wenn man ein anständiger Mensch ist, müsse man eine Utopie haben. Man brauche Zielvorstellungen, auch wenn in der Zeitung nur Schreckensnachrichten stünden. In diesem Sinne bin ich Utopist geblieben. Alles, was Sie in meinem Haus sehen, sind aufgelesene Bruchstücke von Utopie.“
Rudolf Ekstein, dieser unverbesserliche, liebenswerte Utopist und Nostalgiker, der sich bereits früh mit Sigmund Freud sowie dem kühnen zionistisch-sozialistischen Theoretiker Siegfried Bernfeld identifizierte, begeisterte sich für eine Verbindung zwischen Pädagogik und Psychoanalyse. Zeitgleich engagierte er sich in der sozialdemokratischen Mittelschüler- und Studentenbewegung. Wie für viele jüdische Reformpädagogen, von denen einige in das damalige Palästina emigrierten, blieb Bernfeld auch für Ekstein ein Vorbild, an dem er sich zeitlebens orientierte.
Ekstein hatte in Wien Psychologie studiert und begeistert die Schriften von Freud, Bernfeld, August Aichhorn, Wilhelm Hoffer und Anna Freud gelesen. Er besuchte den Ausbildungskurs für Psychoanalytische Pädagogik in der Berggasse 9 und begann seine psychoanalytische Ausbildung. Zugleich nahm er Kontakt zu pädagogisch-psychoanalytischen Projekten auf, machte dort erste pädagogische Erfahrungen – eine frühe Prägung.
Als Zweiundzwanzigjähriger trat er aus Protest gegen die zögerlich-unentschlossene Haltung der Sozialdemokraten gegenüber der faschistischen Gefahr nach den Februarkämpfen des Jahres 1934 und dem Verbot der Arbeiterpartei dem Kommunistischen Jugendverband bei, welcher in der Illegalität operierte. Einer seiner engen Freunde war Christian Broda, der spätere österreichische Justizminister.
1937 verfasste Ekstein, angeregt durch die Schriften Wilhelm Reichs ein Flugblatt mit dem Titel „Sexualpolitik des Faschismus.“ „Wir sind langsam linker und linker geworden. (...) Was zuerst politische Unterschiede waren, ist dann politischer Streit und Kampf geworden“, beschrieb Ekstein 50 Jahre später die damalige Situation (vgl. Kaufhold 2001, S. 96-138).
1937 vermochte Ekstein noch seine Promotion abschließen. Nach mehrmaligen Festnahmen wegen seiner Untergrundaktivitäten floh der 26-jährige im Oktober 1938 über England in die USA, die seine zweite Heimat werden sollten. Er nahm zwei Koffer voller Bücher mit, darunter elf Bände der „Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik“, Bernfelds „Sisyphos“ und Thomas Manns „Über den kommenden Sieg der Demokratie“. Diese Bücher hat Ekstein zeitlebens aufbewahrt. Er zeigte sie voller Stolz seinen zahlreichen europäischen Besuchern.
Auf dem österreichischen Kongress „Vertriebene Vernunft“, zu dem er 1987 gereist war, erinnerte Ekstein in eindrücklicher Weise an seine Flucht: „Als es mir im Sommer 1938 gelang zu flüchten und ein neues Leben im Ausland zu beginnen, war ich voller Angst und Wut. Aller Widerstand war vergebens gewesen. Der Kampf gegen den Faschismus, seit 1934 sogenannter illegaler Widerstand, war verloren. Ich mußte weg, aber nicht nur als Jude, sondern auch als Illegaler, als Widerstandskämpfer. Ich war ein junger Mann und versprach mir, ich würde nie wieder zurückkommen, ich würde nie wieder Deutsch sprechen. Deutsch war für mich die Sprache der Unterdrücker, der Hakenkreuzler.“
Das Glück seiner Emigration sollte die Tiefe seines Verlustes jedoch nicht verdecken: „Die einzige Person, die ich retten konnte, war mein Vater. Mein Onkel und seine katholische Frau sind in Wien krank und ohne Verpflegung zugrunde gegangen. Alle anderen mir bekannten Verwandten – mit Ausnahme von zwei älteren Damen, die ich noch getroffen habe – sind umgekommen. Ich weiß nicht, wo.“
Eksteins weiterer beruflicher Weg in den USA sei hier nur kurz skizzier. Er ließ sich in New York nieder und erlangte dort, durch Vermittlung einer Flüchtlingshilfeorganisation, eine Stelle als Lehrer. Wenige Wochen nach seiner Ankunft veröffentlichte er seinen ersten englischsprachigen Aufsatz, in welchem sich sein ungebrochenes pädagogisch-politisches Engagement sowie seine Hoffnung auf das demokratische Amerika widerspiegelte: „A refugee Teacher Looks on Democratic and Fascist Education“. Der Beitrag beginnt mit den Worten: „So sehr wir uns auch bemühten, in meinem kleinen Land in Mitteleuropa den Faschismus zu verhindern und die Demokratie wiederherzustellen – wir hatten keinen Erfolg. (...) Wir wenigen Glücklichen aus einer unüberschaubaren Anzahl von Flüchtlingen und Gefangenen müssen unser Versagen eingestehen. Es ist uns nicht gelungen, in unserer Heimat die Kultur, die Glaubensfreiheit, die Freiheit der politischen Meinung (...) zu verteidigen.“
Ekstein absolvierte in Boston eine Ausbildung als social worker und beendete seine Lehranalyse. Von 1947 bis 1957 leitete er an der psychoanalytischen Menninger Foundation ein Forschungsprojekt für psychotische und Grenzfallkinder. Durch diese wissenschaftliche und pädagogisch-therapeutische Tätigkeit erlangte er in der internationalen Fachöffentlichkeit hohes Ansehen. Von 1958-1978 setzte er an der Reiss-Davis Klinik in Los Angeles seine psychoanalytisch-pädagogische Tätigkeit, seine Zusammenarbeit mit Lehrern und Sozialarbeitern fort.
Eksteins aus der klinischen Praxis erwachsene Produktivität war enorm. Sie umfasst ca. 500 Studien und Rezensionen. 1963 erschien der Beitrag „Psychoanalyse und Erziehung – Vergangenheit und Zukunft“, die Publikation, in welcher erstmals nach dem Krieg in deutscher Sprache an die Vernichtung der Psychoanalytischen Pädagogik durch den Nationalsozialismus erinnert wurde. 1966 publizierte Ekstein die Studie „Children of Time and Space, of Action and Impulse“; 1973 kam das deutschsprachige Buch „Grenzfallkinder“ heraus, eine Sammlung seiner Arbeiten zur Milieutherapie mit psychisch schwerkranken Kindern. 1994 erschien auf deutsch eine Auswahl seiner Schriften. Erst danach wurden umfangreiche Studien über Eksteins Leben und Wirken publiziert (Oberläuter, 1995; Kaufhold, 2001). In jenen Jahren wurde der ebenfalls aus Wien geflohene Bruno Bettelheim der engste Freund und Kollege Eksteins. Ihre klinischen Interessen, ihre gemeinsamen Wurzeln und ihr sehr unterschiedlicher Charakter verband sie. Rudolf Ekstein war sich seiner jüdischen Abstammung zeitlebens sehr bewusst. Die antisemitischen Anfeindungen und Angriffe der 1930er Jahre haben ihn geprägt.
Die Entwicklung in Israel, Israels Jahrzehnte langen Kampf um sein Überleben, nahm er zeitlebens mit Besorgnis wahr. Ab Mitte der 1960er Jahre beschäftigte er sich intensiv mit der Kibbutz-Erziehung.
1964 reiste Ekstein erstmals wieder nach Österreich – und anschließend nach Israel. Er traf dort, nach 25 Jahren, alte Wiener Freunde wieder, die nach Israel emigriert waren. Und er besuchte den gleichen Kibbutz, Ramat Yohanan, in der Nähe von Haifa gelegen, in dem Bettelheim seinerzeit geforscht hatte. Seine israelischen Freunde machten ihm in ihren im vertrauten Wiener Dialekt geführten Gesprächen die außerordentlichen Pionierleistungen dieser ersten Kibbutzim bewusst, die mit schwerster Arbeit, unter der unmittelbaren existentiellen Bedrohung durch arabische Feinde, aufgebaut wurden. Ekstein wurde erneut zu einem Brückenbauer, einem Wanderer zwischen verschiedenen Welten. Weder die kulturell-geographische noch die zeitliche Distanz von 25 Jahren hatten ihn von seinen nach Israel geflohenen Wiener Freunden getrennt."
Am 18. März 2005 ist Rudi Ekstein verstorben. Zehn Tage später verstarb seine Ehefrau Ruth, mit der er seit 1942 verheiratet war. Sie hinterließen zwei Kinder, Jean und Rudolf, die beide in den USA als Lehrer arbeiten. Nach seinem Tod wurde der gesamte wissenschaftliche Nachlass sowie Eksteins umfangreiche Privatbibliothek nach Wien gebracht und der Universitätsbibliothek Wien im Februar 2006 als Geschenk übergeben; heute firmiert sie als Rudolf Ekstein Sammlung.
Im deutschsprachigen Raum jedoch ist sein Name weitgehend vergessen. Das deutsch-jüdischen Internetmagazin haGalil veröffentlichte an seinem 100. Geburtstag einen umfangreichen deutsch- und englischsprachigen Themenschwerpunkt in Erinnerung an sein Wirken http://www.hagalil.com/archiv/2012/02/09/ekstein-2/.