Es ist irgendwie eine seltsame Situation: Wir sitzen in einer Solistengarderobe des Zürcher Opernhauses, ringsum ist alles friedlich und ruhig, gleichzeitig nehmen in der Heimat von Olga Kulchynska die Spannungen zu. Olga Kulchynska kommt aus der Ukraine, ist Sopranistin und tritt gegenwärtig in der Oper «Dialogues des Carmélites» auf. Darin geht es um 16 Nonnen, die während der französischen Revolution unter der Guillotine starben. Die Kritiken waren von der Inszenierung begeistert, auch von Olga Kulchynska. Am Abend wird sie wieder in der Figur der Blanche auf der Bühne stehen.
Eine einfache Rolle ist es nicht, die sie da zu spielen hat und man fragt sich automatisch, wie es ihr wohl dabei geht. «Ich bin ok», sagt sie strahlend. «Ich bin glücklich, dass ich singen kann, anderthalb Jahre konnte ich das nicht, von drei Auftritten abgesehen. Ich bin glücklich, in Europa zu sein, wieder reisen zu können und gesund zu sein. Und ich bin dankbar, wieder arbeiten zu können.»
Komplizierte Proben
Schon während der Pandemie wusste sie, dass in Zürich Francis Poulencs «Dialogues des Carmélites» auf sie warten würde. Sie hatte Zeit, sich mit dem Stück auseinanderzusetzen. «Also zwei Jahre sind zu viel!», sagt sie gleich. «Normalerweise beginne ich eine neue Rolle etwa ein halbes Jahr vorher einzustudieren. Aber ich habe die Zeit genutzt, um auch meine Technik zu verbessern.» Der Probenverlauf in Zürich war dann reichlich kompliziert, wegen verschiedener Krankheitsfälle. «Die Oper hat 12 Szenen und wir konnten oft nicht in der richtigen Reihenfolge proben und mussten immer wieder Szenen überspringen. Das hatte zur Folge, dass man bis zur letzten Woche die Entwicklung des Charakters einer Person nicht klar sehen konnte.» Das sei allerdings ein Problem, das alle Produktionen zurzeit haben, meint sie noch.
Diese Blanche, die wegen ihrer Angstattacken Zuflucht im Kloster der Karmeliterinnen sucht, sieht Olga Kulchynska als schwierigen Charakter. «Im Roman, der der Oper zugrunde liegt, beschreibt die Autorin auch die Kindheit der jungen Blanche, aber in der Oper haben wir diese Informationen nicht. Mir hat es geholfen, dass ich ein paar Charakterzüge von Blanche in mir selbst gefunden habe. Natürlich bin ich nicht Blanche, aber ich habe auch meine Ängste. Wir können allerdings heute kaum nachvollziehen, wie sich die Menschen während der französischen Revolution gefühlt haben, als sie Tote auf den Strassen sahen.»
Dann vergleicht sie diese Situation doch auch mit den Ereignissen in der Ukraine. «In der Ost-Ukraine mussten die Menschen 2014 auch solche Bilder sehen … Aber ich habe zum Glück nicht diese Erfahrungen gemacht, da ich damals in Moskau war und erst in die Ukraine zurückkam, als es vorbei war. Deshalb ist es schwierig für uns, nachzuvollziehen, welche Haltung Menschen gegenüber dem Tod einnehmen und wie sie damit umgehen. Und Blanche wollte dieser Situation entfliehen, fand die Lösung aber dann auch nicht im Kloster. Ich denke, sie hatte viele innere Probleme und Ängste».
Angst und Anspannung spielen
Auch Poulencs Musik, sagt Kulchynska, erzählt diese Geschichte. «Es gibt musikalische Dialoge und viele Kontraste, die man sich einprägen muss. Das ist schwierig. Ich habe zum Beispiel ein Rezitativ einstudiert und die Musik ändert sich komplett, während ich im Text die Geschichte weitererzähle. Ich habe durch diesen Bruch verstanden: Oh, Blanche ist sich nicht sicher, was sie gerade sagt, sie lügt oder glaubt es selber nicht. Wir hören es also nicht aus ihren Worten, sondern aus der Musik.»
Wie sehr nimmt einen denn so eine Rolle auch persönlich mit, wie nah kommen ihr die Probleme der Blanche? «Es ist jedenfalls einfacher, abends drei Stunden lang in diese Person zu schlüpfen, als sie sechs Wochen lang zu proben … immer und immer wieder diese Gefühle wiederholen und ausprobieren, das ist wirklich hart. Auch Angst zu spielen, ist schwer. Man ist immer angespannt, der ganze Körper ist angespannt. Man muss das Gleichgewicht finden, innerlich ruhig zu bleiben und äusserlich diese Anspannung zu haben. Das braucht Zeit. Aber während der Vorstellung konzentriert man sich und weiss, was man zu tun hat. Ich komme klar mit der Rolle.»
Melodisch, harmonisch und klar
Wenn die Geschichte auch während der französischen Revolution spielt, so ist die Musik doch aus dem 20. Jahrhundert.
«Ja, Poulenc ist modern, aber sehr melodisch, harmonisch und klar. Es ist nicht so eine komplizierte Musik wie Schönberg.» Olga Kulchynska ist sehr angetan von dieser Musik. Und nicht nur das. «Ich liebe die Kultur aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts ganz allgemein. Ich mag die Literatur, die Poesie, die Musik … einfach alles. Poulenc ist sehr speziell: Er war extrem präzis, er wusste genau, was er von den Sängerinnen und Sängern erwartete und schrieb es mit vielen Details in die Partitur hinein. Das hilft einem sehr.»
Ihre Lieblingsmusik ist allerdings trotzdem eine andere. «Ah … ich mag Barock», sagt sie mit strahlenden Augen und lässt keinen Zweifel aufkommen. «Monteverdi, Purcell, Gesualdo …» Sie schwelgt nur so in diesen Namen. Und fast verschämt lächelnd meint sie noch im Flüsterton: «Ich mag aber auch Barockmusik ohne Gesang … manchmal mag ich einfach keine menschliche Stimme hören! Stattdessen Bach! Er ist seit dem Teenageralter mein Favorit. Immer! Ich habe als Kind Klavier gelernt und das erste, was ich wirklich gern gespielt habe, war Bach. Wenn man Bach spielt – und zwar nicht nur als Super-Profi – dann kommen die Gedanken zur Ruhe, alles findet seine Ordnung, im Herzen wie im Kopf, auch wenn man nur zuhört.»
Von Kiew nach Moskau
Olga Kulchynska ist in einer Musikerfamilie aufgewachsen und erzählt, dass sie viel symphonische Musik gehört habe, Kammermusik, Quartette, aber relativ wenig Gesang. Über die Musikakademie in Kiew kam sie nach Moskau, wo sie im Bolschoi-Theater im Young Artist Opera Program aufgenommen wurde, so eine Art Opernstudio, das ihr auch den Weg als Solistin am Bolschoi ebnete. «Ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance bekommen habe, von den Russen im Bolschoi viel zu lernen … ja, ich bin ja auch Teil dieser Kultur. Ich kann Russisch seit meiner Kindheit und mag diese Menschen – was nicht heisst, dass ich die politische Situation mag …»
Zu Zürich hat sie im Übrigen eine besondere Beziehung, seit sie 2015 hier als ganz junge Sängerin in Bellinis «I Capuleti e i Montecchi» engagiert war. «Es war meine erste Rolle in Europa! Ich konnte noch nicht einmal Englisch und sie haben mich genommen. Anschliessend bekam ich viele Angebote in München, Paris, New York und so weiter.» Seither ist sie immer wieder in Zürich aufgetreten und kann selbstverständlich inzwischen auch Englisch.
Und natürlich macht sie sich auch Sorgen, wenn sie die Nachrichten aus ihrer Heimat verfolgt, während sie in Zürich ist. «Wir stecken in einer Situation, in der wir nicht wissen, was morgen geschieht. Ich bin Bürgerin der Ukraine und werde nach meiner Arbeit in Zürich dorthin zurückkehren. Aber wer weiss, wie es weitergeht … Ich hoffe, ich kann noch reisen. Ich versuche, im Jetzt zu leben und nicht zu überlegen, was morgen oder übermorgen sein könnte …»
Opernhaus Zürich
Francis Poulenc
«Dialogues des Carmélites»