Der Kant-Spezialist Marcus Willaschek legt eine neue Einführung in die Philosophie des grossen Aufklärers vor. Sein gut lesbares Buch hat den Vorzug, dass man Kant beim Denken zusehen kann und ihn als einen Menschen des 18. Jahrhunderts kennenlernt.
Der 22. April 2024 ist der dreihundertste Geburtstag Immanuel Kants. Auf diesen Termin hin werden sich neue Biografien und Werkdarstellungen häufen. Für eine kurze Weile dürfte das Thema Kant in allen Medien, auf allen Kanälen und in ungezählten Events hochkochen. Viele werden sich im Würdigen dieses wahrhaft epochalen Philosophen überbieten, andere werden sich kaum darin genug tun können, ihn zu demontieren und sämtlicher Vergehen wider die Standards heute geforderter Gesinnungen zu bezichtigen.
Der an der Frankfurter Goethe Universität lehrende Philosoph Marcus Willaschek zählt zu den führenden Kant-Experten. Er hat seine neue Darstellung des Kant’schen Denkens ein halbes Jahr vor dem Jubiläumstermin herausgebracht und so aus dem zu erwartenden Rummel herausgehalten. Entstanden ist ein ausdrücklich an Nicht-Fachleute gerichtetes Buch, das eine umfassende Einführung in die Philosophie Immanuel Kants bietet – ein Werk, das über den Gedenktermin hinaus wichtig bleiben wird.
Ein wohlüberlegter Denkweg
Willaschek nimmt die Leser mit auf eine Erkundungstour durch das Lebenswerk Kants, das ja keineswegs geradlinig auf jene Spitzenleistungen zuläuft, die ihn berühmt gemacht haben. Dem Autor gelingt das Kunststück, die enorme Breite dieses Werks in einem thematischen Aufbau zu erschliessen, der sachlogisch statt biografisch vorgeht und so den Zugang zum kontra-intuitiven und deshalb so schwierigen Kulminationspunkt, dem kritischen Idealismus Kants, erleichtert.
Es lohnt sich, bei der Lektüre gelegentlich das ausführliche Inhaltsverzeichnis, in dem die dreissig Kapitel kurz umrissen sind, zu konsultieren, um sich auf dem wohlüberlegten Denkweg des Buches zu orientieren. Jedes der kurzen Kapitel ist für sich lesbar. Die Folge dieses Prinzips ist ein gewisses Mass an unvermeidlicher Redundanz, doch diese ist gerade auch beim vollständigen Lesen des Buches durchaus hilfreich.
Schrittweise und von mehreren Richtungen her zeichnet Willaschek die Wege nach, die zur «Revolution des Denkens» – so der Untertitel des Buches – führen: Kant beginnt in den 1770er-Jahren, das Verhältnis von Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozess umzudrehen. Nicht das Objekt wirkt (durch das Auslösen von Sinneseindrücken) auf das erkennende Subjekt ein, sondern umgekehrt: Es ist das erkennende Subjekt, welches der Erscheinung des Objekts die vorgegebenen Strukturen seiner Wahrnehmungs- und Vernunftfähigkeiten auferlegt. Das Objekt ist nur erkennbar, indem es eine Erscheinung von sich ermöglicht, die diesen Fähigkeiten entgegenkommt. Das Subjekt wird so in ganz neuartiger Weise zum Mittelpunkt der Philosophie.
Zehn Jahre lang ist Kant völlig abgetaucht, um sich ausschliesslich mit dieser Wende des Denkens zu beschäftigen Als deren Ergebnis erschien 1781 die «Kritik der reinen Vernunft». Sie bildet zusammen mit der «Kritik der praktischen Vernunft» (1788) und der «Kritik der Urteilskraft» (1790) die Trias von Kants kritischer oder transzendentaler Philosophie. Schafft die erste Kritik die neuartige erkenntnistheoretische Grundlage, so exponiert die zweite die eigentliche Zielrichtung des Kant’schen Denkens. Die entscheidende Probe der Vernunft ist für ihn immer die Praxis, das moralische Handeln. Der Praxisvorrang umschreibt zusammen mit der Zentralposition des Subjekts die Charakteristik des Kant’schen Denkens.
Nicht Philosophie lernen, sondern Philosophieren
Kant hat gesagt, Studierende der Philosophie sollten sich nicht Gedanken aneignen, sondern das Denken, nicht Philosophie lernen, sondern das Philosophieren. Diese Maxime macht Willaschek sich zu eigen. Er stellt nicht das ausformulierte philosophische System Kants vor, sondern zeigt die Denkprozesse, die zu den philosophischen Einsichten des grossen Aufklärers führen.
Am Anfang steht immer ein philosophisches Problem, oder anders gesagt: eine Schwierigkeit, welche die Vernunft mit sich selber hat. Das Buch legt jeweils die Genese des philosophischen Diskursstands dar, von dem Kant ausgeht. Es verdeutlicht so die Kontinuitäten des Denkens, in denen Kant steht. Als Professor an der Universität von Königsberg (ab 1770 endlich in seinen Wunschfächern Metaphysik und Logik) kennt er nicht nur die wichtigen Stationen in der Entwicklung der abendländischen Philosophie, sondern auch die zeitgenössischen Philosophen, mit denen er sich gründlich auseinandersetzt.
Kant sucht den Austausch, sei es durch Lektüre und Korrespondenz, sei es in geselliger Runde bei regelmässigen Tischgesellschaften. Er ist einerseits ein fairer Debattierer, der sich belehren lässt. Andererseits weiss er, dass er neuartigen Einsichten auf der Spur ist, welche das philosophische Denken revolutionieren.
Willaschek verwendet grosse Sorgfalt darauf, die Prozesse des Vorstossens zu einem neuen Denken nachzuzeichnen. Als Beispiel sei die Arbeit am Fragenkomplex von Determinismus und Willensfreiheit herausgegriffen. Hier konstatiert Kant den Antagonismus – oder, wie er das nennt: die Antinomie – zwischen dem naturgesetzlichen Kausalitätsprinzip (alles Geschehen in der Natur lässt sich auf Ursachen zurückführen) und der für jegliche Moral notwendigen Annahme «spontaner», äusserlich unverursachter Handlungen. Beides ist je für sich denknotwendig und steht gleichwohl in einem unlösbaren Widerspruch zueinander. Antinomien wie diese sind empfindliche Störungen jedes philosophischen Weltverstehens, weil sie dem Bemühen, die Wirklichkeit mit einheitlichen Prinzipien zu beschreiben, einen dicken Strich durch die Rechnung zu machen scheinen.
Einblicke in Kants Denkwerkstatt
Willaschek zeichnet im 27. Kapitel Kants Lösung des Problems detailliert nach, wie sie in «Kritik der praktischen Vernunft» (Kants bestes Werk, meint der Autor) entwickelt wird. Im Rückgriff auf die erste Kritik stützt Kant sich zunächst auf die Unterscheidung zwischen den «Dingen an sich», die dem menschlichen Erkennen unzugänglich sind, und den «Erscheinungen», die sich nach den menschlichen Verstehensbedingungen richten. Aus dieser fundamentalen Differenz gewinnt Kant seine Ausgangsthese: Auch wenn «unverursachte Ursachen» in der erkennbaren Welt der «Erscheinungen» auszuschliessen sind, könnte es sie bei «Dingen an sich» trotzdem geben.
In einem zweiten Schritt führt Kant eine Differenzierung der Perspektiven ein. In naturwissenschaftlicher Betrachtung ist der Mensch Teil der Natur und in seinem «empirischen Charakter» deren Gesetzen unterworfen. Aus einer anderen Perspektive jedoch ist der Mensch ein Wesen, das aus eigenen Gründen handeln kann. Ob diese Gründe vernünftig seien oder nicht, ist keine wissenschaftlich-deskriptive, sondern eine normative Frage. Diese Form der Vernunft ordnet Kant dem «intelligiblen Charakter» der menschlichen Natur zu.
In einem dritten Schritt schlägt Kant alles, was empirischen Charakters ist, der Welt der «Erscheinungen» zu. Die Gründe spontanen Handelns, die dem intelligiblen Charakter zugeordnet sind, liegen jedoch im Bereich der «Dinge an sich». Erkennbar sind Willensentscheide zwar nur als «Erscheinungen». Da sie aber in der erkennbaren Welt «unverursacht» sind, müssen sie eine nicht erkennbare Ursache im Bereich der «Dinge an sich» haben, die in ihnen zur Erscheinung kommt. – Mit dieser komplexen Denkoperation löst Kant die Antinomie von naturwissenschaftlichem Determinismus und ethischer Willensfreiheit auf, ohne die Wirklichkeit in zwei völlig getrennte Welten – die naturwissenschaftlich und die geisteswissenschaftlich beschreibbare – aufteilen zu müssen.
Das hier gezwungenermassen abgekürzt wiedergegebene Beispiel illustriert Willascheks generelle Vorgehensweise. Er rekonstruiert Kants Argumente und Gedankengänge und bietet sie so dar, dass die Leserinnen und Leser sie Punkt für Punkt nachvollziehen können. Das stellt trotz der erklärenden Darstellung einige Anforderungen, doch wer zu konzentrierter Lektüre bereit ist, wird belohnt mit der Erfahrung, dass Denken ausgesprochen sexy sein kann.
Attraktiv an Willascheks Buch sind nicht nur dessen Blicke in Kants Denkwerkstatt. Neben den philosophischen Tiefbohrungen bringt es auch ein Quantum an leichtem Stoff, ohne welches das Bild Kants dürr und schemenhaft bliebe. Man erfährt also durchaus vieles über Lebensweise und Eigenheiten des ewigen Junggesellen, der Königsberg zeitlebens nie verlassen hat. Und das Schöne dabei: Willaschek serviert diese Faits divers jeweils in Zusammenhang mit den philosophischen Themen. Das gibt dem Buch eine Lockerheit, die seinem Gegenstand besser gerecht wird, als man vielleicht annimmt. Kant, so erfährt man, war ein geselliger Mensch, ein charmanter Causeur.
Der angeprangerte und kritisierte Kant
Natürlich darf in einem aktuellen Kant-Buch die Erörterung der mittlerweile breit diskutierten Vorwürfe nicht fehlen. Willaschek stellt sich den Verdikten des Rassismus und des Antisemitismus, die seit einiger Zeit gegen Kant erhoben werden, und er leistet genau das, was bei entsprechenden Aufgeregtheiten fehlt: genaue Quellenanalyse, Einordnung in den grösseren Zusammenhang von Werk und Leben des Beschuldigten und eine differenzierte Würdigung der Sachverhalte. Willaschek redet nicht drum herum. Die Vorwürfe stimmen. Punkt. Trotzdem ist festzuhalten, dass Kant vor allem in seinen späten Schriften das Konzept der universellen Menschenwürde entwickelt hat, ohne welches wir heute über Dinge wie Rassismus, Antisemitismus und Geschlechterdiskriminierung gar nicht diskutieren würden.
So epochal Kants Leistungen sind, ist die Philosophie doch nicht bei ihm stehengeblieben. Kritiker sind schon zu seinen Lebzeiten aufgetreten. Es zeichnet Willascheks Darstellung aus, dass sie die Anfragen an Kant und die philosophischen Gegenpositionen laufend mit einbezieht. Der Autor macht damit deutlich, dass und an welchen Punkten vor allem die Kant’sche Philosophie im Gespräch bleibt und das Nachdenken über das Denken weiterhin inspiriert.
Marcus Willaschek hat mit seinem Kant-Buch für die zu erwartende Flut an Gedenkliteratur zur Dreihundertjahrfeier eine qualitative Vorgabe gemacht, an der sich alle messen müssen.
Marcus Willaschek: Kant. Die Revolution des Denkens. C. H. Beck 2023, 430 S.