Die schwierige Lesbarkeit gilt übrigens vor allem für seine Hauptwerke, also für seine drei „Kritiken“. Die frühen, sogenannt vorkritischen Texte enthalten stilistisch brillante Passagen. Ernst Cassirer zeigte vor fast hundert Jahren in seiner immer noch überragenden Gesamtdarstellung von „Kants Leben und Lehre“, wie Kants Schreibweise sich von der “Grazie und Heiterkeit“ der vorkritischen Texte zum „schweren schulmässigen Ernst“ seiner reifen Schriften entwickelte.
Cassierer verweist dabei auf eine späte Tagebuchnotiz Kants, worin dieser die „nachteilige Gestalt“ seines Stils, seine „grüblerisch trockene“ Schreibweise erwähnt und diese auch gleich begründet: Er wolle eben nachdenkende Leser gewinnen und jene abschrecken, die nur Praktisches suchten. Anders ausgedrückt: Leser, die mit dem ihnen entgegengesetzten Widerstand zu ringen bereit sind. Allerdings sind an dieser Selbstdarstellung Kants, wonach er bewusst eine schwierige Lesbarkeit angestrebt habe, Zweifel durchaus zulässig.
Kritik des Vernunftvermögens
Im übrigen stösst der Leser in den Texten Kants immer wieder auf Sätze von großartiger Prägnanz und Dichte. Ein solcher ist schon der erste Satz der Vorrede zur ersten Ausgabe der "Kritik der reinen Vernunft“: "Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse, dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft."
Allein schon das Wort „belästigt“ an jener Stelle zeigt, wie sorgfältig Kant seine Worte wählte Und in diesem einen Satz ist mit einfachen Worten vorgezeichnet, was Kant viereinhalb Seiten weiter als die Hauptsache seines Werkes bezeichnet, nämlich die Frage, "was und wie viel Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen“ können. Auch was er unter dem Titelwort "Kritik" versteht ist leicht verständlich definiert: "nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt".
Studenten sollen nicht in Philosophie unterrichtet werden, sondern im Philosophieren
Eine andere Schrift Kants resümiert in einfachen Formulierungen Fundamentales über die Philosophie und das Philosophieren, nämlich die Ankündigung seiner Vorlesung für das Winterhalbjahr 1765/1766. Die ersten dreieinhalb Seiten davon sollten jedem Erstsemester-Studenten der Philosophie und jedem Philosophie-Dozenten zur Pflichtlektüre aufgegeben werden.
Kant kritisiert darin, dass man die Studenten an den Universitäten das Vernünfteln lehre anstatt das Denken. Der Student soll, so Kant, nicht Gedanken, sondern denken lernen; man solle ihn nicht in Philosophie, sondern im Philosophieren unterrichten, denn eine Philosophie, die man lernen könnte, so wie man Mathematik oder Geschichte lernen kann, gebe es nicht.
"Die meisten Sätze über philosophische Dinge sind unsinnig"
Pflicht der Philosophie müsse es sein, das „Blendwerk, das aus Missdeutung entsprang, aufzuheben, sollte auch noch so viel gepriesener und beliebter Wahn dabei zu nichte gehen". 140 Jahre später hat Ludwig Wittgenstein dieses Postulat in zahllosen Variationen und von immer neuen Blickwinkeln aus durchexerziert. Er fasste dabei schon frühzeitig das Ergebnis in dem nur scheinbar arroganten Satz zusammen: „Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig.“ (Tractatus Logico-Philosophicus, para 4.003). Philosophie sei keine Lehre, schreibt Wittgenstein in Anlehnung an Kant, sondern eine Tätigkeit. Ihr Zweck sei die „logische Klärung der Gedanken“. Ihre Ergebnisse seien „nicht philosophische Sätze, sondern das Klarwerden von Sätzen“ (Ebda para 4.112).
Klärung! Kann man ein heideggersches Wortgeklimper wie etwa dieses aus „Die Technik und die Kehre“ klären: „Das Wesen des Gestells ist das in sich gesammelte Stellen, das seiner eigenen Wesenswahrheit mit der Vergessenheit nachstellt, welches Nachstellen sich dadurch verstellt, dass es sich in das Bestellen alles Anwesenden als den Bestand entfaltet, sich in diesem einrichtet und als dieser herrscht.“
Philosophieren heisst denken, selber denken
Es heisst, Heidegger habe durch seine Hinwendung zum Nationalsozialismus zwar in politischer Hinsicht versagt, sei aber ein großer Philosoph gewesen. Wirklich? War es wirklich bloß ein politisches Versagen? War es nicht vielmehr ein geistiges? Ist nicht vorauszusetzen – zumal bei einem Philosophieprofessor –, dass Entscheidungen auf einem gedanklichen Fundament basieren, das ethischen und moralischen Grundsätzen genügt?
Philosophieren heißt doch (und dies nicht erst seit Kant): Denken, und zwar Selbstdenken? Als Motto setzte Kant vor sein erstes Werk, das er als 22-jähriger Student schrieb, das schöne Wort Senecas: „Laufen wir nicht wie das Herdenvieh den Vorangehenden nach. Wandern wir nicht, wo die Menge eben zu gehen pflegt, anstatt auf dem Wege, den man gehen soll!“ Der nächste Satz bei Seneca lautet: „Nichts bringt uns in größere Übel, als wenn wir uns nach dem Gerede der Leute richten und das für das Beste halten, das mit großem Beifall aufgenommen wird.“ Dies – das Selbstdenken, und nicht bloßes Vernünfteln über seiendes Sein und nichtendes Nichts ist letzten Endes Philosophie. Gerade darin jedoch hat Heidegger im entscheidenden Augenblick versagt – nicht politisch, nicht einmal in erster Linie menschlich, obwohl auch dies, sondern als Denker.
Die deutschen Philosophen dazumal: "Führer befiehl! Wir folgen dir"
Wie stand es überhaupt damals mit den Philosophen in Deutschland? Von den 174 Philosophen vom Privatdozenten aufwärts, die zwischen 1933 und 1945 an den philosophischen Fakultäten Deutschlands unterrichteten, waren 78 Mitglieder der NSDAP, weitere 37 gehörten zum Nationalsozialistischen Dozentenbund oder zum Nationalsozialistischen Lehrerbund (George Leaman: Heidegger im Kontext, Hamburg 1993). Ungeachtet der Ermahnungen Senecas und Kants sangen sie mit der Menge: „Führer befiehl! Wir folgen dir“, und sie folgten ihm in das grösste Verbrechen der Geschichte. Sie seien vom Zeitgeist erfasst worden, sagten sie später zu ihrer Entschuldigung. Aber sollte man von Philosophieprofessoren – und von Menschen überhaupt – nicht erwarten dürfen, dass sie selber denken und nicht wie Schafe dem Leithammel folgen?
Doch zurück zu Kant. Auf die Frage seines Professors, weshalb er Vorlesungen über Theologie höre, obwohl er doch gar nicht Theologe werden wolle, erwiderte der Student Kant: „aus Wissensbegierde.“ Ein großartiges Wort. Der Vers: Money, money, money makes the world go round“ ist falsch. Nicht die Rothschilds, Fuggers und J. P. Morgans bewegen die Welt, sondern die unersättliche Wissensbegierde eines Platon, Decartes, Kant, Newton, Einstein. Doch wie verhält sich diese Wissensbegierde Kants mit dem gängigen Bild von ihm als einem sesshaften Menschen, der nie aus Königsberg hinausging. In Wahrheit war er ein Weltenbummler – ein Weltenbummler allerdings nicht mit Koffer oder Rücksack, sondern mit den Augen.
Er verschlang Reiseberichte, studierte sie so gründlich, dass er, wenn man zeitgenössischen Berichten glauben darf, einem gebürtigen Londoner die Westminsterbrücke bis in die Einzelheiten dermassen genau schilderte, dass dieser ihn fragte, wie viele Jahre er in London gelebt habe und ob er Architekt sei. Es gibt kaum ein Gebiet, dem er nicht seine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Er gab Vorlesungen über Logik, Mathematik, Naturwissenschaften, Mechanik, theoretische Physik, Methaphysik – ja, preussische Offiziere liessen sich von ihm in Festungskunde unterrichten. Angewurzelt war nicht sein Geist, bloss sein Arbeitsplatz. Er bezeichnete ihn als Ambos, vor dem er den „schweren Hammer“ führe. Mein später Lehrer an der Humboldt Universität in Berlin, Volker Gerhardt, wies mich darauf hin: Kant suchte seine Abenteuer nicht mit Marschschuhen, sondern im Kopf.
1) Roger Bernheim war viele Jahre lang Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in London