Einen Brunnen und einen Strassennamen war sie der Stadt immerhin wert, aber der Ehrendoktor in Medizin der Universität Zürich ist die wohl aussagekräftigste Wertschätzung. Wer war diese Frau, die Wirtschaftsgeschichte mit Langzeitwirkung geschrieben hat?
Susanna Rinderknecht, die Bauerntochter
Der Vater ist nicht nur Landwirt, sondern auch Gemeindepräsident des Zürcher Aussenquartiers Oberstrass. Seine Frau, ebenfalls Tochter eines Grossbauern, ist eine liebevolle Mutter und eine tüchtige Gutsfrau. Susanna, das fünfte von sieben Kindern, ist aufgeweckt, politisch interessiert, lernbegeistert und mit einem spitzbübischem Charme ausgestattet. Ungewöhnlich für die Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Mutter kann ihren Mann davon überzeugen, der Tochter einen viermonatigen Welschlandaufenthalt zu bewilligen, und die Töchter sollen sich bilden und dürfen bereits im Alter von fünfzehn Jahren Ausflüge und kleine Reisen unternehmen – alleine, mit begrenztem Budget, damit sie den Umgang mit Geld lernen.
Schon früh zeichnet sich ein enges Verhältnis Susannas zur älteren Schwester Caroline ab, das sich zu einer idealen Lebensgemeinschaft entwickelt: Insgesamt werden die Schwestern mehr als acht Jahrzehnte gemeinsam verbringen, trotz Susannas Heirat. Zusammengeschweisst werden sie u.a. durch Carolines Hirntyphus, von dem sie in der Heilanstalt «Burghölzli» durch den damaligen Leiter August Forel völlig geheilt wird. Dankbar widmen sich beide Schwestern danach der Betreuung von Geisteskranken. Aber es gibt noch ein weiteres Interesse: Forel, später für seine Ameisenforschung berühmt, ist nicht nur Anstaltsleiter, sondern auch engagierter Bekämpfer des Alkoholismus. Sein Einfluss plus eine Reihe von Ereignissen in Susannas Jugend, die durch Trunksucht tragisch enden, bringen die Schwestern in den Kreis der Abstinenzler – und die werden zu der Zeit auch benötigt...
Zürich Ende des 19. Jahrhunderts: 1870 wohnen dort knapp 21'000 Menschen, nur ein Vierteljahrhundert später sind es 100'000 mehr. Die Landflucht hat Spuren hinterlassen: Prostitution und die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten haben massiv zugenommen; fast jedes achte Kind wird unehelich geboren, und der Alkoholkonsum ist beeindruckend: Pro Kopf werden 55 Liter Wein, 37 ½ Liter Bier, 11 Liter Branntwein, und zwar 50prozentiger, konsumiert. Die Wirtschaften sind fast ausschliesslich Männerbastionen, und da in den kinderreichen Familien kaum Alkohol getrunken wird, trinken die Männer einiges mehr als der statistisch ermittelte Durchschnitt. Denn ausser Alkohol gibt es in den Beizen nur Wasser: alkoholfreie Getränke sind noch nicht erfunden worden. Zürich droht ein Sozialfall zu werden.
Susanna und ihre Schwester verschliessen sich diesem Elend nicht, sie möchten "helfen". Aus Interesse wird Leidenschaft und aus Leidenschaft Gestaltungswille, der über Jahre hinweg eine Umsetzungsmöglichkeit sucht.
Frau Professor Orelli
Susanne Orelli findet diese Möglichkeit endlich im Alter von knapp 40 Jahren, und sie wird ihr helfen, die Trauer über den Tod ihres Mann nach nur gut dreijähriger Ehe zu bewältigen. Sie ist nun die «Frau Professor», nachdem sie als Mittdreissigerin, dem Werben des eine Generation älteren Professors Johannes Orelli nachgegeben hat. Eine Heirat war gar nicht (mehr) vorgesehen, aber die Ehe wird glücklich, und Caroline wird als Hausgenossin aufgenommen. Es ist ein gastfreundliches Haus am Zeltweg, in dem nicht nur die Abstinenzler ein- und ausgehen. In lebhaften Diskussionen entstehen Ideen; es wird ein «Initiativkomittee für die Errichtung eines neuen Wirtshauses» gegründet; Susanna ist eines der ersten Mitglieder. Man plant inzwischen nichts Geringeres als eine Zürcher Begegnungsstätte für Geselligkeit und preiswerte, gesunde Verpflegung - ohne Alkohol selbstverständlich. Die Männer wollen die Idee propagieren, die Frauen wollen etwas tun, Und so entsteht bei ihnen die Idee zu einem Bazar, der die Einrichtung einer ersten Kaffeestube nach englischem Vorbild finanzieren soll.
In letzter Minute bekommen die Herren jedoch kalte Füsse und krebsen zurück, doch da haben sie die Rechnung ohne die angehenden Wirtinnen gemacht: Sie werden weitermachen! Es sind Frauen der gehobenen Zürcher Gesellschaft, die sich für dieses Pionierprojekt begeistern, und sie tun das mit einem ausgeprägten Sinn für Machbarkeit: Wenn die Idee alkoholfreier Verköstigung wirklich durchschlagen soll, dann darf sie nicht nach Wohlfahrt oder Frömmigkeit schmecken, sondern muss auf wirtschaftlicher Basis durchgeführt werden. Also reden wir hier von einem Unternehmen, und das braucht Gründungskapital.
Der geplante Bazar wird am 19. und 20. Juni 1894 im vornehmen Gesellschaftshaus «Zum Schneggen» durchgeführt. «Tout Zürich» ist da, kauft und bekräftigt damit das Wagnis: Am Ende gibt es einen Reingewinn von 17'184,60 Franken (heutiger Wert: mal zehn)! Als nächstes wird Ende September der «Frauenverein für Mässigkeit und Volkswohl» gegründet (erst 1909 in «Zürcher Frauenverein für alkoholfreie Wirtschaften» umbenannt). Der Vorstand konstituiert sich aus 15 Damen der Zürcher Gesellschaft; Susanna Orelli gehört offenbar nicht dazu. Sie steckt die Verletzung weg, denn es geht ihr um die Sache. Die Suche nach einem geeigneten Ort gestaltet sich dann allerdings als äusserst schwierig, denn die Wirte sind durch langjährige Pachtverträge an Brauereien gebunden, aber schliesslich vermietet ein Schreiner dem Verein ein kleines Gebäude, und so kann bereits am 16. Dezember 1894 der «Kleine Mathahof» in der Stadelhoferstrasse, das erste alkoholfreie Restaurant, das, von 5.30 Uhr früh bis 19.00 Uhr, gesunde Nahrung zu moderaten Preisen anbietet, eröffnet werden.
"Nur keine Armenanstalt"
Der Erfolg ist überwältigend – im wahrsten Sinne des Wortes: Die Geschäftsführerin verliert nach zehn Tagen die Nerven und geht. Jetzt ist die Frau Professor als Retterin in der Not doch noch gefragt: Die Bauerstochter bindet sich eine frische Schürze um und übernimmt – mal am Kessel, mal an der Kasse, wo immer jemand gebraucht wird. Pragmatisch, sachkundig, freundlich, aber mit hohen Ansprüchen an Qualität, Sauberkeit und Wirtschaftlichkeit: Am Ende des ersten Monats kann der Verein tatsächlich einen Reingewinn von 2,75 verzeichnen! Ihr Kommentar: "Ich wurde eine Lernende. Mein Grundsatz aber war: Nur keine Armenanstalt! Es sollten sich Gäste jedes Standes bei uns wohlfühlen und mit einer Aufmerksamkeit bedient werden, wie man Freunde bedienen würde."
Zwei Jahre sind vergangen, ein Vereinsbericht ist fällig. Die Aktuarin lehnt diese Aufgabe dankend ab, sie meint, die Frau Professor sei dafür besser geeignet. Ohne es zu wissen, erwirkt sie ihr damit einen immensen Entscheidungsspielraum. Natürlich übernimmt Susanna Orelli diese Aufgabe und hat dabei eine Eingebung, wie sie es in ihren **«Erinnerungen»** nennt: "Ich besuchte den Vater einer meiner Helferinnen, der selbst im Schuldienst in hoher Stellung stand, und fragte ihn, ob es nicht angezeigt wäre, in unserem Verein eine Betriebskommission einzuführen, um damit mir und meinen jungen Freundinnen etwas mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Ruhig hörte er mir zu und erwiderte dann, fein lächelnd: «Ah! so stürzt man Regierungen!» Selbstverständlich war er einverstanden."
Im hochgeschlossenen schwarzen Kleid
Selbstverständlich. Die "Usurpation" gelingt allerdings nur, weil der Verein eine kluge Präsidentin hat: Nanny Huber-Werdmüller, Mitglied der feinen Zürcher Gesellschaft, Mitveranstalterin des Bazars sowie Gründungsmitglied des Vereins, muss wohl längst erkannt haben, was für eine Perle sie in dieser Oberstrasserin hat. Die «Frau Oberst» ist weise genug, ihr keine Steine in den Weg zu legen, bzw. herumliegende wegzuräumen.
Die Betriebskommission wird also beschlossen – und sieht einem langen Leben entgegen: Ihre Leiterin hat nie einen anderen Titel gefordert und bleibt Vorsitzende, bis sie zwanzig Jahre später eine würdige Nachfolgerin gefunden hat. In Wirklichkeit gehen ihre Kompetenzen aber weit über die offizielle Funktion hinaus; es gibt keinen Bereich, in dem sie nicht kompetent und entscheidungsfreudig ist. Ihrem Werk kompromisslos verpflichtet, sorgt sie dafür, dass die ursprüngliche Zielsetzung nicht verwässert wird. Im Gegenteil: Sie erweitert sie klug und ökonomisch vertretbar und lässt der ersten Pioniertat viele weitere folgen. Damit begründet sie eine Wirtschaftsreform, die mehr als angesagt war.
Das ganze Unterfangen ist ein einziger Lernprozess, denn die Damen schrecken vor nichts zurück: Nach zehn Jahren einer klugen Expansionspolitik ist aus den bescheidenen Anfängen ein Konglomerat von zehn Betrieben, einschliesslich zweier Hotels geworden, darunter das Flaggschiff des Unternehmens: das Hotel Zürichberg, an bester Aussichtslage im Naherholungsgebiet Zürichs, von der Stadt unter grossen Schwierigkeiten erworben. Die vorausgehenden Verhandlungen zu diesem Erwerb mit dem Stadtrat sowie die Mittelbeschaffung gehören zu den Glanzleistungen der kleinen Frau Professor in ihren hochgeschlossenen, schwarzen Kleidern. Und dass der Verein tatsächlich, nach 17 Jahren Wartezeit, das «Volkshaus Zürich» bewirtschaften konnte, zeugt sowohl von der Beharrlichkeit als auch dem grossen Verhandlungsgeschick der Vorsitzenden der Betriebskommission.
Besonders erwähnenswert ist, dass der Verein von Anfang an Profit mit Ethik kombiniert und eine einmalige Sozialpolitik betreibt: Feste Löhne (Abschaffung des Trinkgelds), Schichtbetrieb (9 Stunden pro Tag, Köchinnen nur 8) und vier Wochen Ferien; Teilzeit- und Aushilfsstellen; systematische Aus- und Weiterbildung sowie Gymnastikstunden für die Mitarbeiterinnen; Personalhäuser und Sozialleistungen. So wurde er zum beliebten Arbeitgeber für die (gut behüteten) Bauerntöchter aus der Umgebung Zürichs, die besonders die Junggesellen der Stadt anzogen...
Dr. h.c. Susanna Orelli-Rinderknecht
120 Jahre nach dem "Kleinen Marthahof": Hat das Pionierprojekt dem Zahn der Zeit standgehalten?
Der Verein heisst heute «ZFV-Unternehmungen» und ist ein traditionsreiches, in der ganzen Schweiz tätiges Hotellerie- und Gastronomieunternehmen mit Sitz in Zürich. Zum Unternehmen gehören die Sorell Hotels Switzerland, verschiedene öffentliche Restaurants, zahlreiche Personalrestaurants, Schul- und Universitätsmensen sowie die Zürcher Bäckerei-Konditorei Kleiner. In über 140 Betrieben sind mehr als 2‘300 Mitarbeitende beschäftigt. Im 2012 wurden ein Umsatz von CHF 204,1 Millionen und ein Cashflow von CHF 28,2 Millionen erwirtschaftet.
Ach ja, alkoholfrei ist das Unternehmen nicht mehr: Seit 2001 ist der Ausschank von Wein und Bier Teil des Unternehmenskonzepts. Susanna hätte wohl dafür Verständnis gehabt; mit ihrem Gespür fürs Machbare hätte sie die Notwendigkeit dieses Schritts eingesehen.
In den Morgenstunden des 12. Januar 1939 ist sie, 93jährig, sanft entschlafen: die Frau, die ein hehres Ziel hatte, sich mit ganzer Kraft dafür eingesetzt und es mit einem überwältigenden Erfolg erreicht hat. Dr. h.c. Susanna Orelli-Rinderknecht, Zürcher Wirtschaftspionierin mit Hirn und Hand, Herz und Humor, könnte manch einer Frau heute als Vorbild dienen.