Kunst kann zu viel des Guten sein. Das ist der Fall während der Adventszeit. Landauf, landab finden die Weihnachtsausstellungen der Künstlerinnen und Künstler statt. Sie dürfen Neues zeigen. Mal ausgewählt von einer Jury, mal nicht. Egal: Zu den Höhepunkten des Kunstjahres zählen die Weihnachtsausstellungen nicht. Sie sind mehr eine schlechte Gewohnheit als ein alter Brauch. Ihnen eilt der Ruf voraus, den sie regelmässig bestätigen, nämlich Wundertüten zu sein mit geringer Chance auf einen Gewinn.
Ei des Kolumbus
Die Künstlerinnen und Künstler sehen es anders. Vor allem jene, denen es selten bis gar nie vergönnt ist, sich in einem Museum, einer Kunsthalle oder einer Galerie zu präsentieren. Die Erfolgreichen wiederum beteiligen sich am vorweihnächtlichen Ritual aus Solidarität mit den weniger Privilegierten und ein bisschen auch deshalb, weil die Einladung einer Jury – wozu und wohin auch immer – als Auszeichnung gilt.
So erfüllen denn die Weihnachtsausstellungen eine doppelte Funktion. Sie sind den im Stillen Schaffenden ein als Gerechtigkeit empfundener Akt und schmeicheln dem Ego der Arrivierten. Drittens überdies erleichtern sie das schlechte Gewissen der Kuratorinnen und Kuratoren, die in einem Zug all jenen zu Gefallen sein können, die sonst ewig vor verschlossenen Türen stünden.
Insofern sind die Weihnachtsausstellungen das Ei des Kolumbus für den Kunstbetrieb und seine internen Verrechnungen. Dafür allerdings hält sich die Begierde des Publikums in engen Grenzen.
Viel Aufwand für Binsenwahrheiten
Aber ohne Publikum verlieren die Ausstellungen ihren hauptsächlichen Sinn. Nötig wäre eine stärkere Anziehungskraft. Das althergebrachte Konzept spiegelt die aktuelle Kunstszene einer Region nicht repräsentativ, sondern lückenhaft. Die Summe der Einzelteile steigert sich nicht zu einem Ganzen.
Die Eingeladenen sind entweder mit einer grossformatigen Arbeit oder einigen kleinformatigen Werken vertreten. Es handelt sich um Momentaufnahmen mit wenig Aussagewert über die künstlerischen Tätigkeiten. Die magere Erkenntnis lautet, dass es einige Begabte, vielleicht ein paar Versprechungen und eine längere Liste der Untalentierten gibt.
Für diese Binsenwahrheit braucht es keine Weihnachtsausstellungen. Der zwanghaften Wiederholung fehlt, jedenfalls aus der Optik des Publikums, die Plausibilität.
Logistische Überforderung
Im Dienste besagter Null-Botschaft richtet die Kulturstiftung des Kantons Thurgau mit der grossen Kelle an. Sie nennt ihre Weihnachtsausstellung „Werkschau“, welche Etikette nichts am vertrauten Veranstaltungs-Charakter ändert.
Nur die logistische Überforderung des Publikums setzt neue Standards. Die Arbeiten von 79 Künstlerinnen und Künstlern mit einem generös interpretierten Bezug zum Thurgau verteilen sich quer durch den Kanton auf sieben Standorte. Ihr Besuch bedeutet bei generalstabsmässiger Reiseplanung einen Tagesaufwand.
Betreuung statt Förderung
Nach Auffassung der Veranstalterin geht es zentral darum, die Diversität der Biographien, Positionen, Arbeitsweisen, Materialien und Erwartungen der Künstlerinnen und Künstler vor Augen zu führen. In der Tat wäre es schwierig, anderes als ein Kunterbunt zu offenbaren. Die mannigfaltige Ausprägung der Kunstszene gehört zum gesicherten Allgemeinwissen und bedarf keiner weiterer Beweise.
Das erschreckend Schlimme an der „Werkschau“ ist das vermittelte schiefe Bild. Auch im Thurgau entsteht eine Gegenwartskunst von Rang, die sich durch Stringenz auszeichnet, ihre Sprache überraschend entwickelt, Unverwechselbarkeit besitzt und sich mit aktuellen Fragestellungen beschäftigt. Diese Qualitäten verschwinden hinter der Beliebigkeit des bloss Gutgemeinten. Die Jury verwechselte Förderung mit fürsorglicher Betreuung.
Babylonischen Verwirrung
Einige wohlklingende Namen wurden berücksichtigt, andere nicht. Die Gründe bleiben rätselhaft. Möglicherweise litt die zwölfköpfige Jury unter einer babylonischen Verwirrung. Die Qualitätsmassstäbe von Künstlern, Kunstwissenschaftern, Kuratoren und Galeristen divergieren fachbedingt. Mehrheitlich vertraten die Jurymitglieder die sieben Ausstellungsorte. Da kann der Wunsch, bestimmte Positionen zeigen zu wollen, die Entscheide beeinflusst haben.
Es kamen sich zwei Perspektiven in die Quere: einerseits der Blick auf die generelle Eignung für die Ausstellung, anderseits das Augenmerk auf die spezifische Eignung für einen der Ausstellungsorte. Deren Vielzahl erweist sich mithin nicht allein logistisch als Schwachpunkt, sondern auch unter dem Aspekt der Werkauswahl.
Sie trennt die ernstzunehmenden Kreativen in zwei Kategorien. Der einen können jene zugeordnet werden, die von der kantonalen Kulturstiftung sowohl finanziell als auch mit einer Ausstellung unterstützt werden, der anderen Kategorie jene, die gar keine Zuwendung erhalten. Das nährt die Vermutung, im Beurteilungssystem sei ein ideologischer Filter eingebaut.
Abschied von Relikten
Massen-Ausstellungen sind entbehrlich geworden. Aus der Erfahrung mit der täglich auch im Internet ansteigenden Bilderflut müssten kuratorische Konsequenzen gezogen werden.
Die erste hiesse, den Weizen rigoros von der Spreu zu trennen. Dann wüsste das Publikum, einer Werkauswahl zu begegnen, die Fachleute in kompromissloser Anwendung transparenter Kriterien verantworten.
Dies wiederum löst Diskussionen aus, die spannender und klärender verlaufen als das simple Gerede über „gut“ oder „schlecht“. Die zweite Konsequenz wäre, der Langeweile des Überflusses zu entkommen, indem die Ausstellungen einem wichtigen, hintersinnigen, provozierenden Thema gewidmet werden.
Die „Werkschau“ liefert exemplarisch Anschauungsunterricht für die Tatsache, dass Weihnachts- und andere Mega-Kollektiv-Ausstellungen als analoge Relikte aus der digitalen Zeit gefallen sind und darum ohne Tränen blitzschnell in die Vergangenheit entlassen werden sollten.
„Werkschau Thurgau 16“, bis 11. Dezember 2016, www.kulturstiftung.ch