Es sind nicht nur Corona-Leugner, Verfassungsfreunde und Trump-Anhänger, die vor einem übergriffigen Staat warnen. Auch Exponenten der Wirtschaft und diverse sich als Liberale verstehende Meinungsmacher sehen die Schweiz in akuter Gefahr, zur Beute eines machthungrigen politischen Apparats zu werden. Für sie verblasst die Gefährlichkeit des Virus angesichts der angeblich entfesselten Ambitionen von Regulierern und Durchregierern.
In der ersten Coronawelle im Frühjahr übernahm der Bundesrat nach Ausrufung der «ausserordentlichen Lage» gemäss Epidemiegesetz die Führung. Er verordnete unter anderem einen Teil-Lockdown für die Bremsung der Ansteckungsdynamik, sorgte für schnelle Hilfe für bedrohte Unternehmen, stützte mit dem Instrument der Kurzarbeit die Angestellten und durch Ersatz von Erwerbsausfall viele Selbständige. Auch wenn nicht alles nach Wunsch lief und das aufgespannte Netz nicht alle auffangen konnte, fand das Krisenmanagement der Landesregierung doch breite Zustimmung.
Doch der Argwohn, der Bundesrat sei auf den Geschmack gekommen und habe inzwischen Freude an seiner ungewohnten Macht, wurde schon im Frühling laut. Zudem hiess es, die Milliardenpakete zur Milderung wirtschaftlicher Corona-Schäden überforderten die Bundesfinanzen. Die NZZ unkte von «Corona-Sozialismus». Wirtschaftsverbände sowie rechte und bürgerliche Kreise erhoben einträchtig die Forderung, der Bundesrat müsse die Führung so rasch als möglich den Kantonen zurückgeben. Und auf gar keinen Fall dürfe es einen zweiten Lockdown geben, denn das würde in der Bevölkerung nicht akzeptiert und die Staatskasse könnte es sich nicht leisten.
Seit dem Sommer sind die Kantone in der Verantwortung. Die stark betroffenen Genfer verhängten früh eine Maskenpflicht, andere warteten auf Anweisungen des Bundes. Viele Kantone agierten zögerlich, weil sie die finanziellen Folgen von Restriktionen lieber der Eidgenossenschaft zuschieben als selber tragen wollten. Das Prinzip Eigenverantwortung funktioniert eben auch auf dieser Ebene im Sinne des Eigeninteresses: Man schaut zwar für sich; aber eben nicht nur aktiv vorsorgend, sondern auch passiv durch Vermeidung von Lasten.
Auf nationaler Ebene fehlt seit der Beendigung der «ausserordentlichen Lage» die Führung. Das den Kantonen obliegende Contact Tracing versagt weitherum. Niemand hat mehr die Kontrolle über das Infektionsgeschehen. Es wird viel zu wenig getestet. Intensivpflegebetten werden knapp. Die Zahl der Todesfälle ist hochgeschossen. Die Schweiz gehört mittlerweile zu den am schlechtesten mit Corona fertig werdenden Staaten, was im Ausland mit ungläubigem Staunen registriert und gewiss nicht so schnell vergessen wird.
Und jetzt, mitten in der krisenhaften zweiten Welle, ist das dringendste Postulat der NZZ, «den Superstaat wieder in Ketten zu legen». Die Wortwahl ist erstaunlich. Denn weder ist die föderalistisch strukturierte Schweiz ein Superstaat noch ein Hobbes’scher Leviathan, den man anketten müsste. Sie ist vielmehr ein Staatswesen, das entschlossener Führung und entschiedenem Handeln gründlich misstraut – was in normalen Zeiten gewisse Vorteile haben kann, in Krisenlagen hingegen fatal ist. Wir haben die Folgen in den Corona-Reports der letzten zwei Monate täglich vorgerechnet bekommen.
Krisen wie die Corona-Pandemie fordern einen starken, handlungsfähigen Staat und eine kompetente Führung. Zwar wird die jetzige Seuche irgendwann überwunden sein. Doch muss mit weiteren globalen Pandemien gerechnet werden. Die Herde möglicher Ausbrüche lassen sich nicht eliminieren und die Verbreitungswege nicht unterbinden. Zudem wird die Klimakrise eskalieren und unabsehbare Verwerfungen nach sich ziehen. Staaten und multilaterale Kooperationen werden in ganz neuer Art gefordert sein.
Die Schweiz hat sich ans Verschontwerden und an einen Ausnahmestatus in der Welt gewöhnt. Tempi passati! Die Globalisierung hat uns einen neuartigen Typus von Krisen beschert, der alle betrifft (wenn auch in unterschiedlicher Weise). Weltweite Katastrophen sind in hohem Mass wahrscheinlich geworden. Nicht erst die Konfrontation mit solchen Ereignissen, sondern schon die Vorbereitungen darauf erfordern ein starkes Gemeinwesen und weitsichtige, handlungsfähige Führungsorgane. Wer jetzt den Staat an die Kette legen will, liegt gründlich falsch.