In der Schweiz sterben jährlich rund hundert Menschen, obwohl sie durch eine Organspende gerettet werden könnten. Weshalb spenden wir nicht?
Journal21.ch will die Jungen vermehrt zu Wort kommen lassen. In der neuen Rubrik „Jugend schreibt“ nehmen Schülerinnen und Schüler des Zürcher Realgymnasiums Rämibühl regelmässig Stellung zu aktuellen Themen.
Nick Sempach wurde im Jahr 2000 geboren und lebt in Zürich. Er besucht die fünfte IB-Klasse des Realgymnasiums Rämibühl. Er ist Vizepräsident des Vereins „Solidarität“ des Realgymnasiums und erreichte das Schulfinale des Debattierwettbewerbs „Jugend debattiert“.
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Stellen Sie sich vor, Ihr liebster Mensch erleidet einen schweren Autounfall. Die Mediziner sind in der Lage, ihm zu helfen. Doch leider fehlt es an der essentiellen Ressource: den Organen.
In der Schweiz warten etwa 1500 Menschen auf ein Spende-Organ. Rund 100 Personen müssen jährlich sterben, obwohl es nicht nötig wäre. Die lebensrettenden Organe wären eigentlich vorhanden, nur will sie niemand abgeben.
Die einfache Lösung wäre ein Organspendeausweis. 2016 gab es in der Schweiz jedoch pro Million Einwohner nur gerade 13,3 Spender. Die sonst so fortschrittliche Schweiz hinkt damit allen in Europa hinterher. Warum?
Oblivisce Mori
Uns geht es so gut wie noch nie: Die Zahl der Verkehrstoten nimmt ab, der letzte Krieg in unseren Gefilden geschah vor über einem halben Jahrhundert, die Arbeitslosigkeit liegt noch bei knapp drei Prozent. Die Medizin entwickelt sich unaufhörlich weiter, viele bis vor kurzem noch tödliche Krankheiten sind entweder ausgerottet oder zumindest behandelbar. Die digitale Unendlichkeit, die angesichts der technischen Perfektion zum Standard geworden ist, wird auf das menschliche Leben übertragen.
Der Tod wird zu einer Eventualität, und der Traum vom ewigen Leben scheint in greifbare Nähe zu rücken. Vor diesem Hintergrund sind Gedanken an die eigene Sterblichkeit und an das konkrete Sterben obsolet geworden. Und doch haben wir diesen sterblichen Körper, der einen geradezu ärgerlichen Kontrast zum greifbar gewordenen Traum vom ewigen Leben darstellt und den es zu beobachten, zu kontrollieren und zu überwinden gilt.
Mein Körper ist mein Tempel
Nie zuvor war der eigene Körper so wichtig wie heute: Wo er früher auf den Schlachtfeldern des Dreissigjährigen Kriegs gemartert wurde, wird er heute im Gym gestählt, epiliert und wenn nötig kosmetisch modifiziert, indem Silikon impliziert, Fett extrahiert und Falten eliminiert werden. Der Körper dient nicht länger als Hülle für den Geist und die Seele, sondern ist vielmehr Ausdruck unseres ästhetischen Perfektionsstrebens, an dem wir gleichzeitig unser übersteigertes Kontrollbedürfnis ausleben können.
So erstaunt es nicht, dass die Schweiz über die höchste Dichte an Fitness-Studios verfügt. Der übersteigerte Fitnesswahn stellt sicher, dass der Körper fit ist und die Organe gesund. Der fanatische Kontrollwahn und die zur Regel gewordene obsessive Eitelkeit hingegen stellen sicher, dass sie nicht dazu benutzt werden, um Leben zu retten, sondern vielmehr als Ausdruck der kontrollierbaren Schönheit Ewigkeit vorgaukeln.
Vanitas bedeutet nicht länger Vergänglichkeit, sondern nur noch Eitelkeit. Und so trägt heutzutage jeder ein Fitnessabo bei sich und kaum einer einen Spenderausweis.
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Die Schülerinnen und Schüler wählen die Themen, die sie im Journal21.ch behandeln, selbst.
Verantwortlich für die Betreuung der jungen Journalistinnen und Journalisten von „Jugend-schreibt“ ist der Deutsch- und Englischlehrer Remo Federer ([email protected])
Das Realgymnasium Rämibühl (RG, bis 1976 Realgymnasium Zürichberg) ist ein Langzeitgymnasium. Es ist neben dem Literargymnasium die einzige öffentliche Schule des Kantons Zürich, die einen zweisprachigen Bildungsgang in Verbindung mit dem International Baccalaureate anbietet, wobei die Fächer Geographie, Biologie und Mathematik auf Englisch unterrichtet werden. Zu den berühmten Schülern gehören Max Frisch und Elias Canetti.
Weitere Informationen finden sich auf der Homepage www.rgzh.ch