Seit Oktober bewegt sich die Schweiz bei der Eindämmung der Corona-Pandemie ständig zwei Schritte hinter dem Infektionsgeschehen. Das ist nicht gut. Fachleute haben immer wieder betont, wie wichtig es wäre, sich mit den Abwehrmassnahmen in eine Position zu bringen, die der Ausbreitung des Virus voraus ist. Nur mit einer «Bekämpfung von vorn» ist eine konsistente, wirksame und für die Bevölkerung jederzeit verständliche Anti-Corona-Politik möglich.
Die Schweiz mit ihrer gewollt schwachen Kollegialregierung, ihren starken Lobbys und Interessenverbänden sowie ihrem sakrosankten Föderalismus mag zwar im Normalfall leidlich funktionieren, ist aber für Krisen schlecht aufgestellt. Die beim Lockdown im Frühling ausgerufene «ausserordentliche Lage», die dem Bundesrat das Heft in die Hand gab, steckt denen, die sich im politischen Normalbetrieb bequem eingerichtet haben, noch in den Knochen. Als man im Sommer wieder zur Stufe «besondere Lage» zurückschaltete und das Krisenmanagement den Kantonen überliess, nahmen dies allzu viele als Freipass zur Sorglosigkeit.
Seit ein paar Wochen jedoch gibt es zu der entspannten Gangart keinen Grund mehr. Die Schweiz gehört europa-, ja sogar weltweit zu den schwerstbetroffenen Ländern. Die Ausbreitung der Krankheit verläuft längst wieder exponentiell. Trotzdem haben der Bundesrat und die meisten Kantonsregierungen sich bis anhin mit ihren Reaktionen aufreizend viel Zeit gelassen. Dabei etikettierten die Verantwortlichen ihre fatale Langsamkeit stets als «Verhältnismässigkeit». Man erkühnte sich gar, das augenscheinliche Versagen als «Schweizer Weg» zu propagieren – mit dem Unterton, irgendwann werde sich dieser Weg als überlegene Besonnenheit herausstellen.
Inzwischen ist die Überheblichkeit verflogen. Für den fälligen Zusammenprall mit der Wirklichkeit haben diese Woche Ärzte und Spitaldirektoren gesorgt, unterstützt vom endlich aus der Deckung kommenden Chef der bundesrätlichen Covid-Taskforce. Jetzt weiss die Nation, dass die Spitäler und ihr Personal am Limit laufen und für die befürchtete Feiertagsspitze der Hospitalisationen keine Reserven haben. Nun ist das gebetsmühlenartige «Es darf keinen zweiten Lockdown geben» leiser geworden. Nur ein paar Unbelehrbare wiederholen es noch immer. Derweil haben die Wintersport-Kantone plötzlich realisiert, dass sie keine Spitalkapazitäten für Skiunfälle übrighaben.
Der Kontrollverlust hat uns in eine Zwangslage gebracht. Sie besteht darin, dass die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems alle anderen Notwendigkeiten übersteuert. Das Vorrecht, in einer Krise zwischen verschiedenen Gütern abwägen zu können, muss man sich erarbeiten. Die Schweiz hat das wegen des Mangels an entschlossener Führung und klarer Kommunikation nicht geschafft – und wird nun getrieben von der Macht des Virus.
Wenn dann die Seuche mal ausgestanden ist, wird man zurückschauen und vergleichen: Was haben Taiwan, Japan, Neuseeland, Finnland und weitere demokratische Staaten besser gemacht? Doch ob man dies wirklich so genau wissen will, muss sich erst noch zeigen. Krisen tun bekanntlich nur weh, so lange sie akut sind.