Im Herbst 2016 haben National- und Ständerat die Vorlage Energiestrategie 2050 angenommen. Ziele dieses ersten Massnahmenpakets sind: Erhöhung der Energieeffizienz, Förderung erneuerbarer Energien, Ausstieg aus der Kernenergie. Also: Weg von der alten, risikobehafteten, nicht nachhaltigen Energieversorgung in Richtung neue, innovative Energiewelt. Man könnte auch argumentieren: Altes Denken relativieren, neues Denken zulassen. Das passte der SVP nicht, sie hat das Referendum ergriffen, deshalb stimmen wir an der Urne ab.
Worum geht es?
Die Energiemärkte sind wegen der tiefen Energiepreise und der neuen, sich sehr rasch entwickelnden Technologien weltweit im Umbruch. Der Klimawandel beeinflusst Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft ebenfalls. Mit der Energiestrategie 2050 antwortet der Bundesrat auf das veränderte Umfeld, um der Schweiz weiterhin eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten. Er stützte sich dabei auf Vorgaben des Parlaments.
Die Energiestrategie 2050 wird schrittweise umgesetzt. Das Parlament hat dazu dieses erste Paket verabschiedet. Es enthält Massnahmen, um den Energieverbrauch zu senken, die Energieeffizienz zu erhöhen und erneuerbare Energien wie Wasser, Sonne, Wind, Geothermie und Biomasse zu fördern. Zudem sollen bestehende Grosswasserkraftwerke vorübergehend unterstützt werden, weil sie wegen der tiefen Marktpreise kaum mehr kostendeckend produzieren können. Der Bau neuer Kernkraftwerke wird verboten. Das Parlament hat diese Massnahmen mit der Totalrevision des Energiegesetzes und der Änderung von anderen, damit verbundenen Gesetzen beschlossen.
Eigentlich eine vernünftige Sache, würde man meinen.
Auswirkungen
Gemäss Vimentis besteht die heutige Stromversorgung zu rund 40% aus Atomenergie und zu 60% aus erneuerbaren Energiequellen (vor allem Wasserkraft). Durch eine Annahme der Gesetzesrevision werden die Atomkraftwerke am Ende ihrer sicherheitstechnischen Laufzeit abgestellt und nicht mehr ersetzt. Somit müssen rund 40% der aktuellen Stromproduktion ersetzt werden. Der Bundesrat erwartet, dass bis zur Stilllegung der Atomkraftwerke einerseits durch die Reduktion des Stromverbrauchs nicht mehr die gleiche Menge an Strom benötigt wird (gesteigerte Energieeffizienz) und andererseits die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien durch die Fördermassnahmen entsprechend erhöht werden kann. Durch die beschleunigten Bewilligungsverfahren für Stromnetze soll die Schweiz ihre Schlüsselfunktion in Europa behaupten können und die Versorgungsicherheit gewährleistet werden.
Diese Strategieänderung ist nicht gratis zu haben. Die zu erwartenden Kosten sind schwierig abzuschätzen. Die Erhöhung des Netzzuschlags belastet künftig Haushalte mit vier Personen mit rund 40 Franken pro Jahr, meint der Bundesrat.
Argumente der Befürworter
Investitionen in die erneuerbaren Energien sind Investitionen in die Zukunft. Die zeitlich limitierte Förderung erneuerbarer Energien ist zweckmässig und führt dazu, dass die Schweiz längerfristig nicht mehr auf den risikobehafteten Strom aus Atomkraftwerken angewiesen ist. Investitionen bleiben damit in der Schweiz und Arbeitsplätze werden gesichert. Von Gebäudesanierungen werden KMU profitieren, die Förderung der erneuerbaren Energien hat zudem einen positiven Einfluss auf den Forschungs- und Innovationsstandort Schweiz. Es ist deshalb sinnvoll, sich an der Entwicklung der Zukunftsmärkte zu beteiligen.
Und nur nebenbei: Die Verminderung unseres CO2-Ausstosses ist dringend!
Argumente der Gegner
Die Gegner rechnen mit viel höheren Kosten und sehen die Versorgungssicherheit durch den Ausstieg aus der Atomenergie gefährdet. Sie stören sich insbesondere auch an den vorgesehenen Subventionen für die kostendeckende Einspeisevergütung (KEV) und beanstanden ganz generell die vielen neuen Regulierungen und Verbote. Glanzstück der Gegner vornehmlich aus dem Kreis der SVP ist die gratis in alle Haushaltungen verteilte Zeitung „ENERGIEINFO“; der Zweimillionenaufwand allein dafür ist selbstredend. Im Co-Präsidium des Nein-Komitees sitzen u. a. Christoph Blocher, Roger Köppel, Magdalena Martullo, Andrian Amstutz, Alfred Heer, Albert Rösti.
Tatsachen und Meinungen
Zwei Beispiele apropos neues gegen altes Denken und was konkret damit gemeint ist: In Zollikofen bei Bern entsteht gemäss Sonntags Blick mit der Ecobox (ecobox-be.ch) das Gewerbehaus der Zukunft. Während in unserem Land Gebäude zurzeit noch 45 Prozent des gesamten Energieverbrauchs benötigen, deckt dieses geplante Gebäude seinen Energiebedarf praktisch selbst: Die Fotovoltaikanlage auf dem Dach liefert Strom, das Fassadensystem nimmt Solarenergie auf und wandelt sie um in Wärme, die Abwärme von Serverräumen (Computer) wird verwertet, eine neuartige Batterie speichert überschüssigen Strom und gibt ihn in der Nacht oder an lichtarmen Tagen ab. Längst gibt es auch überall in der ganzen Schweiz EFH und grössere MFH, die energieautark ausgerüstet sind und teilweise mehr Strom produzieren, als ihre Bewohner verbrauchen.
Stellvertretend für altes Denken („Zurück in die Steinzeit?“) die oben zitierte „ENERGIEINFO – Staatlicher Zwang und Umerziehung? Nein Danke!“ Die auf der Doppelseite aufgeführten Argumente gegen die geplante Energiestrategie sind eigentliche Lachnummern konservativer, ideologisch verkorkster Denkformen. „Nur noch Staubsaugen bei Sonnenschein? Keine Weihnachtsbeleuchtung mehr? Nur noch kalt duschen? Keine Ferienflüge mehr für Normalverdienende? Fussballspiel schon wieder abgesagt? Waschen nur noch 1 x im Monat oder von Hand?“
Wer hat da wohl zu kalt geduscht?
„Sicher, sauber, schweizerisch“
In der NZZ erklärt Bundesrätin Leuthard einmal mehr das Energiegesetz: „Sicher, sauber, schweizerisch“, lautet die Devise. Die von den Gegnern geäusserte Kritik (diese werfen ihr Unredlichkeit vor, da mit dem vorliegenden Gesetzespaket nur rund die Hälfte der Ziele der Energiestrategie 2050 erreicht würde) kontert sie vehement und vergleicht das Vorgehen mit jenem bei der Rentenreform. Da wie dort wird aus Erfahrung gelernt und deshalb etappiert vorgegangen. Die Idee der SVP, alle Energieträger gleichermassen zu subventionieren, also auch die Atomkraft, findet Leuthard im übrigen „erstaunlich“.
Hauseigentümer und Mieter profitieren
Gemäss „Hauseigentümer“ (Organ des Hauseigentümerverbands) wird mit der neuen Energiestrategie die Eigenstromproduktion gestärkt und der Eigenbedarf rechtlich verankert. Das erfreulichste Ergebnis für die Hauseigentümer sieht er in der Gleichstellung von energetischen Einzelmassnahmen mit den Gesamterneuerungen hinsichtlich der steuerlichen, verbesserten Abzugsfähigkeit. Dass innerhalb dieses Vereins die Meinungen wohl nicht einheitlich sind, geht daraus hervor, dass der HEV Schweiz keine Abstimmungsparole fasst und sich im Abstimmungskampf finanziell nicht engagiert.
Es ist offensichtlich, dass auch die Mieter mittelfristig von energiesanierten Häusern profitieren. Alte Fenster, durchlässige Fassaden, nicht isolierte Dächer – dies alles schlägt sich in der Heizkostenabrechnung nieder, die wiederum durch die Mieter zu bezahlen ist.
Nervöse Verbands-, Parteien- und Medienwelt
Dass die Meinungen zur Abstimmung weit auseinandergehen, ist nicht weiter sonderbar. Economiesuisse ist tief gespalten und tut sich schwer mit einem Grundsatzentscheid. Nachhilfeunterricht gibt dem Verband da Magdalena Martullo-Blocher. Sie rät im Tages-Anzeiger dazu, „auch wenn Economiesuisse die Interessen verschiedener Branchen unter einen Hut bringen muss – weil es für die Industrie so wichtig ist, muss der Verband klar Position gegen das neue Energiegesetz beziehen. Alles andere wäre unbegreiflich.“ (Zwischenruf: Begreift da jemand etwas nicht?)
Doris Fiala (FDP) ist Gegnerin der Vorlage, obwohl die FDP sich mit Ach und Krach für ein Ja ausgesprochen hat. Fiala erwartet vom Finanzplatz, dass er sich solidarisch zeigt mit der Industrie – was immer sie darunter verstehen mag. Bekanntlich votieren nicht wenige Industriezweige im Land für ein Ja zur Vorlage.
Dagegen bezeichnet der FDP-Ständerat Ruedi Noser die Energiestrategie als „einen guten Kompromiss“: nicht zuletzt deshalb, „weil dank Energieeffizienz und mehr einheimischer Produktion weniger Energieimporte nötig sind“ ...
Auch die Medienwelt möchte sich profilieren im Abstimmungskampf. „Unappetitliche Energiestrategie“ betitelt die NZZ einen eigenen Beitrag – „die Energiestrategie 2050 ist ein von Sonderinteressen und politischen Kompromissen geprägtes Monstrum. Es ist das Abbild einer verpolitisierten Branche.“ Das mit dem Monstrum kann nicht so ernst gemeint sein – entspricht doch das Gezänke im Vorfeld einer eidgenössischen Abstimmung durchaus traditioneller helvetischer Direktdemokratie.
Generell lässt sich feststellen, dass es eigentlich weniger die Politikerinnen und Politiker sind, welche unser Energiesystem verändern, sondern der unaufhaltsame technische Fortschritt und das veränderte Bewusstsein einer sich immer nachhaltiger orientierenden Bevölkerung.
Bundesrat, Parlament und alle politischen Parteien mit Ausnahme der SVP empfehlen die Annahme des Energiegesetzes.
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