Zu den Merkwürdigkeiten der heutigen Verhältnisse in Russland zählen die Umtriebe des undurchsichtigen Strippenziehers Jewgeni Prigoschin und der ebenso undurchsichtige Einsatz seiner Söldnerarmee im Ukraine-Krieg und in afrikanischen Konfliktherden. Ob der scheinbar allmächtige Putin die Aktivitäten des verurteilten Kriminaltäters gezielt zur Sicherung seines Herrschaftssystems einsetzt oder ob Prigoschins Aufstieg eher als Anzeichen eines tendenziellen Kontrollverlusts zu deuten ist, bleibt vorläufig völlig ungeklärt.
Kann man sich in einem intakten, einigermassen gefestigten und überschaubar funktionierenden Staat solche Zustände vorstellen? Da führt der Machthaber einen völlig willkürlichen, durch keinerlei rechtliche oder moralische Norm zu rechtfertigenden Angriffskrieg gegen ein Nachbarland – und an einigen Frontabschnitten kämpft neben der regulären Armee des Angreifers gleichzeitig eine Söldnertruppe, die von einem zwielichtigen Strippenzieher mit mafiösem Hintergrund organisiert und offenbar auch finanziert wird. Und dieser Söldnerführer, ein in jüngeren Jahren verurteilter Krimineller, kann es sich obendrein herausnehmen, Führungsleute der Armee, den Verteidigungsminister und andere dem allmächtigen Staatschef nahestehende Politiker, unflätig zu beschimpfen und auf seinen digitalen Kanälen als unfähige Trottel abzukanzeln.
«Putins Koch», Troll-Fabrikant und Söldnerführer
In Putins Russland sind solche Zustände mindestens seit dem Lostreten des Ukraine-Krieges zu einem Teil der Alltagswirklichkeit geworden. Dass der heute 62-jährige Jewgeni Prigoschin im Umkreis von Präsident Putin eine umtriebige und mysteriöse Rolle spielte, war zwar schon länger bekannt. Schon seit einigen Jahren werden über den glatzköpfigen Unternehmer aus St. Petersburg, der in den 1980er Jahren wegen Diebstahl und Raub verurteilt wurde und deswegen fast zehn Jahre im Straflager sass, allerhand Schlagzeilen verbreitet. Wegen seiner erfolgreichen Unternehmungen als Essenslieferant für Schulen und für die Armee und dem Betrieb trendiger Restaurants, in denen auch Putin in seiner Heimatstadt ab und zu mit illustren Gästen verkehrte, titulierte man ihn in den Medien gerne als «Putins Koch».
Später wurde Prigoschin auch mit der vielzitierten St. Petersburger Troll-Fabrik in Verbindung gebracht, deren Mitarbeiter gemäss verschiedenen Recherchen russische Propaganda-Nachrichten im Internet verbreiten und sich damit auch in ausländische Wahlkämpfe eingemischt haben sollen. Als dann in Syrien und einigen afrikanischen Konfliktherden über den Einsatz von russischen Söldnern berichtet wurde, die unter der Bezeichnung «Gruppe Wagner» auftraten, hiess es wiederum, diese mysteriösen Einheiten würden von «Putins Koch» Prigoschin dirigiert. Die genaueren organisatorischen und personellen Zusammenhänge bei diesen Aktivitäten blieben zunächst ziemlich schleierhaft, da Prigoschin selber eine solche Rolle dementiert hatte.
Das änderte sich im Laufe des russischen Überfalls auf die Ukraine, als Prigoschin im Zusammenhang mit der stockenden Offensive im Donbass im vergangenen Herbst öffentlich erklärte, dass an dieser Front Söldner der Gruppe Wagner im Einsatz stehen und dass er als leitender Kopf dieser Söldnertruppe agiert. Bald kursierten auch Videos im Internet, in denen Prigoschin bei der Rekrutierung von Häftlingen in russischen Gefängnissen für den Kampf in der Ukraine zu sehen ist. Den Häftlingen wird dabei die Aufhebung ihrer Strafurteile versprochen, falls sie den Fronteinsatz überleben. Schon diese Rekrutierungsaktion und die damit verbundenen Versprechungen stellen klar, dass Prigoschin als Söldner-Unternehmer nicht ohne den Segen Putins handelt.
Polemik gegen Generäle und den St. Petersburger Gouverneur
Weniger klar ist hingegen, ob der glatzköpfige St. Petersburger Tausendsassa sich auch mit Gewissheit auf die Protektion des Kremlchefs verlassen kann, wenn er führende Militärs bis hin zu Verteidigungsminister Schoigu im Internet als Versager abkanzelt, die neben anderen Vergehen für die vielen Toten unter seinen Wagner-Kämpfern verantwortlich seien, weil die Armee seinen Söldnern nicht genügend Munition zur Verfügung stelle. Bisher jedenfalls hat Putin ihn bei solchen Agitationen gegen die von ihm eingesetzten Generäle gewähren lassen.
Ebenso drastisch zog Prigoschin in der vergangenen Woche gegen den St. Petersburger Gouverneur Alexander Beglow vom Leder und zwar im Zusammenhang mit der Tötung des ultranationalistischen Militärbloggers Wladlen Tatarski durch eine versteckte Sprengladung in einem Etablissement, das offenbar zum Restaurant-Imperium von «Putins Koch» gehört. Prigoschin beschimpfte den Gouverneur, der zweifellos über engere Beziehungen zu Putin verfügt, auf einem Internet-Kanal rundheraus als «Drecksack», weil dieser nicht für genügend Sicherheitsvorkehrungen gegen derartige Anschläge sorge. Schon zuvor hatte der Söldnerführer laut Medienberichten eine offizielle Strafanzeige gegen Beglow eingereicht, die dem St. Petersburger Gouverneur vorwirft, zahlreiche Denkmäler in der früheren Zarenhauptstadt verkommen zu lassen.
Zwei Denkrichtungen
Unter den Spekulationen, weshalb Putin die in den vergangenen Monaten zunehmend schriller und unverfrorener gewordenen Selbstinszenierungen Prigoschins toleriert, kann man zwei Denkrichtungen unterscheiden. Eine Argumentationslinie geht davon aus, dass der Kremlchef als abgebrühter Machtmanipulator als Gegengewicht zum militärischen Establishment gezielt eine bewaffnete Gegenströmung protegiert und fördert, um so den Einfluss und mögliche Machtambitionen der Generäle während des laufenden Krieges nach dem alten Prinzip «teile und herrsche» besser im Schach halten zu können.
Die andere Richtung der Erklärungsversuche sieht im Aufstieg des dubiosen Söldnerführers Prigoschin und seiner ruchlosen Soldateska eher das Symptom einer korrosiven Aushöhlung von Putins Machtsystem und seiner politischen Autorität. Ist nicht denkbar, dass der Kremlchef es sich angesichts der seit Monaten stockenden Offensive der russischen Streitkräfte in der Ukraine und einer möglicherweise sich ausbreitenden Kriegsmüdigkeit in Russland es sich gar nicht mehr leisten kann, auf die Unterstützung eines Draufgängers und Hasardeurs à la Prigoschin zu verzichten? Und falls ja, hat Prigoschin überhaupt die gleiche Agenda wie Putin?
Alle diese Fragen lassen sich vorläufig nicht näher beantworten. Fest steht nur, dass die Prominenz von «Putins Koch» und der undurchsichtige Stellenwert seiner Söldnertruppe ein ziemlich gespenstisches Licht auf die innere Verfassung des heutigen Russlands werfen.