Das 20. Zurich Film Festival (ZFF) ist am Sonntag zu Ende gegangen. 140’000 Eintritte konnte man während der zehn Tage verzeichnen, ein neuer Rekord. Ein sinnvollerweise verschlankter Wettbewerb und ein gegenüber den Vorjahren reduziertes Filmprogramm boten wohl allen etwas, nicht zuletzt den Freunden populärer Schweizer Unterhaltung. Als bester Spielfilm wurde «On Becoming a Guinea Fowl» der sambischen Regisseurin Rungano Nyoni, als bester Dokumentarfilm «Black Box Diaries» der Japanerin Shiori Ito mit einem Goldenen Auge ausgezeichnet.
So ganz ohne Aufregung vor der Eröffnung scheint man es beim ZFF neuerdings nicht mehr machen zu wollen. War es letztes Jahr das erst trotzig behauptete Bekenntnis zum neuen «Partner», dem Chocolatier Läderach, um ihn einen Tag später fallenzulassen, so ist es dieses Jahr der Dokumentarfilm «Russians at War» einer russisch-kanadischen Regisseurin, der Knall auf Fall gecancelt wurde (aber noch «im Programm» blieb …). Weil, wie es hiess, die Polizei Sicherheitsbedenken gegenüber einer Vorführung angemeldet hatte. Die Rede war von möglichen Störaktionen ukrainischer «Aktivisten» gegen einen Film, der unterschlage, dass russische Soldaten, mit denen die Filmemacherin mehrere Monate an der Kriegsfront verbracht hatte, Kriegsverbrecher seien.
Hätte man bei der Festivalleitung, anstatt vor einer bedenklichen ukrainischen Drohkulisse, die offenbar bis zur Botschafterin in Bern reichte, einzuknicken, sich eine Strategie dazu einfallen lassen, dann hätte man zum Beispiel einerseits den Warnungen der Polizei Rechnung tragen können und auf die öffentliche Vorführung des Films verzichtet. Anderseits aber den Film eben den Medien in einer geschlossenen Vorführung gezeigt und damit zweierlei erreicht: erstens eine maximale öffentliche Breitenwirkung eines Films, den man immerhin für würdig befunden hatte, im Dokumentarfilmwettbewerb zu figurieren, und zweitens wenigstens ein Signal ausgesandt, dass man sich nicht einfach dem Druck irgendwelcher äusserer Interessen unterwirft. Wie in der NZZ zu lesen war, bekam die Jury den Film aber zu sehen.
Jüdischer Erinnerungsschmerz
Den Film zur Stunde hat so Tim Fehlbaum mit «September 5» beigesteuert und damit an das Kontinuum des palästinensischen Terrors erinnert, aber auch an ein hilfloses Nachkriegsdeutschland angesichts der Ermordung von Juden auf seinem Boden. Seine minutiöse, intensive Rekonstruktion des Attentats des Schwarzen Septembers auf die israelische Delegation an den Olympischen Sommerspielen in München 1972 zeigt die Vorgänge so, wie sie sich für die Equipe des amerikanischen Fernsehsenders ABC dargestellt haben dürften. Das ist wieder ganz anders als der Erstling des 1982 geborenen Baslers – «Hell» (2011), ein Endzeitthriller, dessen Titel sowohl deutsch wie englisch funktionierte – und erinnert durchaus an die Politthriller, wie sie Costa-Gavras um 1970 herum inszenierte. Auch der Film, bei dem Sean Penn einer der Produzenten war, ist in München entstanden, in den Bavaria-Studios.
Bemerkenswert, wie sich hier ein Nichtjournalist mit Grundsatzfragen des Metiers auseinandersetzt. Gekonnt zumal die wiederholt fast ununterscheidbare Kombination von Archivmaterial und Neuinszenierung. Die zunächst diffuse Nachrichtenlage, Zeit- und Konkurrenzdruck (Wir haben die News, CBS hat das Satellitenzeitfenster, was tun?), dann, als allmählich die politische Dimension des Ganzen dämmert, das Kompetenzgerangel mit der Nachrichtenabteilung, der gegenüber sich ABC Sports behaupten muss, dann wieder ist Improvisation gefragt, wird eine massive Studiokamera nach draussen gekarrt, ein junger schwarzer Mitarbeiter zum «Sportler» umgerüstet und ins von der (völlig überforderten) Polizei abgeriegelte Olympische Dorf eingeschleust – all das lässt das Journalistenherz höher schlagen.
Subtil der Einbezug der beiden einzigen Frauen in dieser rein männlichen Truppe mit ihren hierarchischen Duftmarken: einer einfallsreichen Kameraassistentin und der unscheinbaren Übersetzerin, ohne die die amerikanischen Vollprofis, die kein Wort Deutsch verstehen, aufgeschmissen wären. Eindringlich Leonie Benesch, die bereits ganz jung in Michael Hanekes «Das weisse Band» (2009) auf sich aufmerksam gemacht hat. Zur journalistischen Sternstunde wird das Ganze, wenn sich plötzlich Grundsatzfragen stellen. Was, wenn die Terroristen unsere Informationen eben auch erhalten und nutzen können? Was, wenn Familien Angehörige sterben sehen? Primeur gegen Verantwortung.
(Ab 9. Januar 2025 im Kino)
Das Raffinierte an «A Real Pain», Jesse Eisenbergs beeindruckendem zweitem Film als Regisseur ist, dass und wie er ihn als touristische Erkundung Polens anlegt. Eisenberg verkörpert darin David, den New Yorker Juden, der sich mit seinem Cousin Benji (Kieran Culkin) zu einer einwöchigen Fahrt durch das Land entschlossen hat, weil sie endlich das Haus sehen wollen, in dem die geliebte Grossmutter vor ihrer Flucht aus Polen zuletzt gelebt hatte. Davor sind sie mit einer kleinen Reisegruppe unterwegs, auf deren Programm der Besuch jüdischer Gedenkstätten in Warschau und in Lublin mit dem Alten jüdischen Friedhof und dem am Stadtrand liegenden KZ Majdanek steht. Eisenberg macht daraus einerseits eine unterhaltsam-eindrückliche Fahrt durch ein Land, das im westlichen Kino so gut wie unbekannt ist, und führt anderseits durch die ingeniöse Zusammensetzung der Gruppe einen ebenso profunden wie leichtfüssigen Diskurs über heutige jüdische Identität.
Einen umwerfenden Auftritt legt Culkin hin (der zwei Jahre jüngere Bruder von Macaulay Culkin, dem Helden von «Home Alone», wo Kieran als Kevins jüngster Cousin figurierte). Der Begriff «extravertiert» scheint eigens für diesen charmanten Freak erfunden worden zu sein, der doch, wie sein Cousin den andern mitteilt, erst kürzlich einen Selbstmordversuch unternommen hatte. On und off und durchaus programmatisch alle die Chopinschen Nocturnes, Impromptus und Etüden. Superb geschnitten, ist dies ein Film ohne einen falschen Ton, dem man anmerkt, dass Eisenberg Polen, dessen Staatsbürgerschaft er aufgrund seiner Familiengeschichte beantragt hat, offensichtlich kennt.
Weibliche Selbstermächtigungen
Am berühmtesten geworden und geblieben ist von der amerikanischen Kriegsfotografin Lee Miller natürlich die Aufnahme, die sie 1945 in Hitlers Badewanne am Prinzregentenplatz in München zeigt. «Lee», der Film der namhaften amerikanischen Kamerafrau Ellen Kuras, der Stationen aus Millers Leben vergegenwärtigt, bringt die Szene selbstverständlich auch. «No tits!», ruft Lee ihrem Kollegen von «Life» zu, dem Amerikaner David Scherman (Andy Samberg), der sie aufnehmen soll – wegen der Zensur. Im Übrigen stellt Kate Winslet, auch Produzentin des Films, ihren formidablen Busen, den die Welt seit «Titanic» kennt und schätzt, auch hier wieder in alter Unbekümmertheit zur Schau. (Nur in Klammern: Da hätten sich «Busenwunder» Pamela Anderson und ihre Regisseurin, Gia Coppola, für ihren letztlich eben doch verklemmten «The Last Showgirl» etwas abgucken können.) So weit wie die furchtlose Emma Thompson in «Good Luck to You, Leo Grande» (2022) geht Winslet freilich nicht, dies wird vom Stoff aber auch gar nicht verlangt.
Gegenwartsebene des Films, auf die immer wieder zurückgekehrt wird, ist ein Interview, so nimmt man zunächst jedenfalls an, im Jahr 1977, wobei das befremdende Verhalten des jungen Mannes am Schluss, aber erst am Schluss, seine Auflösung erfährt. Lee Miller ist da, in ihrem Todesjahr, sichtlich gealtert – und Winslet bringt das ebenso souverän zum Ausdruck wie die barbusige Unbefangenheit vierzig Jahre zuvor, der Zeit mit ihren «surrealistischen» Freunden in Südfrankreich 1938. Zentral werden aber die Kriegsjahre. Zunächst ist Lee als Fotografin für «Vogue» in London, wo sie mit dem unsäglich arroganten Cecil Beaton (Samuel Barnett) aneinandergerät, die Chefin, Audrey Withers (Andrea Riseborough), die schwierige Mitarbeiterin aber nicht fallenlässt. Endlich, aber auch nur, weil sie Amerikanerin ist, schafft sie es, «war correspondent» zu werden (sie drückt denn auch fleissig auf den Auslöser ihrer Rolleiflex, bloss: neue Filme einlegen, bei der Rollei mit ihrem Rollfilm eine umständliche Sache, sieht man sie praktisch nie …). Die verstörend drastischen Bilder, die sie nach der Befreiung der KZ Buchenwald und Dachau aufnimmt, wird nur die amerikanische «Vogue» bringen. Miller ist ein Rauhbein, sie raucht und trinkt, ach was, sie schlotet wie ein Kamin und säuft wie ein Loch – wobei eine Kate Winslet eben nie ins Cliché abdriftet. Und wenn’s denn Verzweiflung ist, dann nicht an ihr selbst, sondern am Gang der Welt.
(Ab 17. Oktober im Kino)
«The Last Showgirl» von Gia Coppola, einer Nichte Sofia Coppolas, nimmt sich das nicht totzukriegende Thema Las Vegas vor, wo bekanntlich nur das Talmi echt ist. Hier sollen es auch die Gefühle sein, und man nimmt es dieser Shelley, die ihr Leben lang Revuegirl gewesen ist, durchaus ab, dass das bevorstehende Ende ihrer «Paris»-Show sie mit Panik erfüllt. Aber Hand aufs Herz: Wäre es nicht Pamela Anderson, die diese alternde Tänzerin verkörpert (wobei wir sie kaum auf der Bühne sehen), kein Hahn würde nach diesem Film krähen, der redlich bemüht ist, ein «anderes» Las Vegas zu zeigen. Anderson bringt ihren Part soweit mit Anstand und Würde hinter sich – eine Schauspielerin, die über mehr als einen Ton verfügt, ist sie halt immer noch nicht. Eine gespenstische Erscheinung ist Jamie Lee Curtis als «cocktail waitress», eine beeindruckende der frühere Wrestler Dave Bautista als Inspizient.
Ein in verschiedener Hinsicht ausserordentlicher Film ist «Black Box Diaries» der japanischen Journalistin und Filmemacherin Shiori Ito. Da ist zunächst der fast unglaublich lange Zeitraum, über den sich die Aufnahmen erstrecken. 2015 hatte ihr ein einflussreicher Kollege ein interessantes Jobangebot in Aussicht gestellt, sie zu einem Nachtessen eingeladen, dabei offensichtlich betäubt, hierauf in ein Hotel gebracht und dort vergewaltigt. Eine Überwachungskamera des Hotels hat festgehalten, wie eine willenlose Person zu diesem Zeitpunkt zum Eingang gebracht wird. 2017 beschliesst sie, die Sache vor Gericht zu bringen – gegen den Widerstand nicht zuletzt ihrer Familie, die in bester japanischer Tradition bemüht ist, nur ja nichts über den Vorfall an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, und entsprechend im ganzen Film nicht in Erscheinung tritt.
In der Folge, und nun kommen Jahre mit immer neuen Sitzungen und Besprechungen mit ihren Anwälten, zeigt sich vor allem, wie das «System» mit allen Mitteln versucht, sie zum Schweigen zu bringen. Ihr Vergewaltiger hat beste Verbindungen nicht nur zum Polizeichef, sondern bis hinauf zu Shinzo Abe, dem Premierminister, der 2022 bei einem Attentat ums Leben kommen wird. 2023 erfolgt dann endlich das ersehnte Gerichtsurteil, wobei Ito dank ihrem Buch «Black Box Diaries» inzwischen nicht nur eine ansehnliche Gefolgschaft gefunden hat (bemerkenswert der Hotelportier!), sondern bis zuletzt auch erbitterte Gegnerschaft – gerade auch von weiblicher Seite.
Nun liesse sich das allenfalls als eine zwar bedauerliche, aber halt typische weitere MeToo-Geschichte abhaken, einfach mit spezifisch japanischem Einschlag. Aber die junge Shiori Ito, die in New York eine Filmausbildung absolviert hat, ist nicht nur beeindruckend mutig, sie weiss auch auf erstaunliche Weise ihr filmisches Handwerk umzusetzen: in einen kühnen, geradezu avantgardistischen Film, dessen Ästhetik des Verwischten, Unscharfen, Improvisierten den Gang der Ereignisse perfekt abbildet.
(Ab 31. Oktober Im Kino)
Die wilden Kinder und der doppelte Enkeltrick
Wann hat sich ein Festival für einen gelohnt? Wenn man mindestens einen ausserordentlichen Film gesehen hat. Dieser überragende Film war für mich dieses Jahr ohne Frage «Don’t Lets Go to the Dogs Tonight». Der Film der Südafrikanerin Embeth Davidtz, dessen Titel sich etwa mit «Heute abend wollen wir nicht vor die Hunde gehen» übersetzen liesse, fusst auf den 2002 erschienenen Kindheitserinnerungen Alexandra Fullers, die mit ihrer Familie erleben musste, wie die Wahlen von 1980 dem bisherigen Südrhodesien ein Ende bereiteten. Als Simbabwe war es unter Robert Mugabe fortan in eine prekäre Unabhängigkeit entlassen.
Zweierlei ist für den Film bezeichnend. Zum einen eine seltsame Ort- und Zeitlosigkeit, wo einerseits alles immer schon dagewesen zu sein scheint, nicht zuletzt die Hunde, die Sofa und Betten belegen, nun aber in einem Zustand der Betäubung und fast schon Verwahrlosung verharrt. Und anderseits eine unbeschreibliche Lebenslust und Entdeckungsfreude – personifiziert in der bildhübschen, liebenswert-verwilderten siebenjährigen Bobo (Lexi Venter). Man wäre es wohl schon zufrieden, der Film bestünde aus nicht mehr als dieser nicht enden wollenden Eröffnungssequenz, in der sie auf ihrem Motorrad mit umgehängtem (Luft-)Gewehr durch die Buschsavanne kurvt: Inbild von Wildheit und Freiheit. Es wird nie klar, wovon man auf der Farm irgendwo weit draussen eigentlich lebt; von der «Kornkammer Afrikas», als die das Land einst galt, ist jedenfalls nichts zu sehen (gedreht wurde in Südafrika).
Dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten, und zwar für Weisse wie für Schwarze, macht der Film auf beeindruckende Weise anschaulich. Neben der kleinen Bobo, die fast permanent mit im Bild ist, ist die Mutter die zentrale Figur. Die Schauspielerin Embeth Davidtz verkörpert in ihrer ersten Regiearbeit souverän gleich auch noch die Rolle dieser Nicola Fuller, die, da psychisch angeschlagen, zur Alkoholikerin geworden, mit der Maschinenpistole im Arm schläft. Die sie durchaus auch einsetzt, wenn sich eine Kobra auf die Veranda verirrt. Der kantige, wortkarge Vater verschwindet immer wieder mit andern, ebenfalls bewaffneten Männern. Dass die «Rebellen» nicht bloss Einbildung sind, zeigt sich, als die Familie einmal spät nachts nach Hause kommt und die schwarze Hausangestellte Sarah (Zikhona Bali), Bobos Vertraute und wichtigste Bezugsperson, in ihrem Blut daliegend vorfindet. Sie kann nicht nur gerettet werden – zuletzt wird Bobo sie als zur «African Queen» verklärte Erscheinung imaginieren, während die Familie davonfährt, einer ungewissen neuen Heimat entgegen. Aber erfüllt von einem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl: Hinreissend, wie sie zusammen Chris de Burghs «Patricia the Stripper» singen, allen voran eine begeisterte Bobo.
Wie schon «Mary and Max» (2009) hat nun dieses Jahr auch «Memoir of a Snail», der jüngste Film des Australiers Adam Elliot, den Hauptpreis in Annecy erhalten, dem Mekka des Animationsfilms. Keine allzu grosse Überraschung, ist man versucht zu sagen, ist er doch einerseits eine virtuose Demonstration klassischer Animationstechnik, die vor allem bei den kurzen raschen Bewegungsabläufen unwillkürlich Computerunterstützung suggeriert. Aber nein. Anderseits operiert die in Australien angesiedelte Geschichte derart penetrant mit Lockstoffen wie Frankreich, Paris, «cinéma» und sogar Trickfilm, dass wohl kein jurierendes Auge trocken bleiben konnte.
Das Problem dieser «Denkschrift» ist jedoch, dass die titelgebende Schneckenthematik nie wirklich einleuchten will; sie geht denn auch zwischendurch immer wieder vergessen. Dass die Ästhetik des Grotesk-Hässlichen durchaus ihren Reiz haben kann, zeigt die Figur Pinkys, der Ersatzgrossmutter der früh verwaisten Heldin der Geschichte. Doch diese ist, ebenso wie ihr von ihr getrennter Zwillingsbruder, einfach zu unbedarft-artifiziell, als dass sie irgendwie näheres Interesse zu wecken vermöchte. Kein Vergleich mit Claude Barras‘ liebenswert-rührender, im besten Sinn ergreifender Waisengeschichte «Ma vie de courgette» (2015). Dass der Film nicht jugendfrei ist, macht ihn innerhalb seines Genres ungewöhnlich, das Spiel mit Pornoelementen bleibt aber immer ironisch. Mit gut anderthalb Stunden ist er zudem etwas länglich.
Ab 26. Dezember im Kino
Natürlich operiert «Thelma» von Josh Margolin mit der Figur der komischen Alten, bald schusslig, bald hilflos, dann wieder verschmitzt und raffiniert. Hier ist sie 93-jährig, ganz wie ihre Darstellerin, und lebt allein in ihrem Haus in Los Angeles, immerhin umsorgt von Tochter, Schwiegersohn und liebenswertem Enkel, der besonders auf sie aufpassen muss. Als sie telefonisch auf einen Enkeltrick hereinfällt und an irgendeine Adresse zehntausend Dollar schickt, ist sie nicht gewillt, die Sache, wie ihr die Familie rät, auf sich beruhen zu lassen, sondern entschlossen, das Geld zurückzuholen. Das nimmt dann mit der Hilfe eines alten Freunds aus einem Altersheim seinen erwartbar umständlichen, aber durchaus unterhaltsamen Gang. Entscheidend fürs Gelingen ist der doppelte Enkeltrick, der darin besteht, dass sie ihren Aufpasser überlisten muss. Am Zielort angekommen, und das ist tatsächlich nicht schlecht, findet sie als Übeltäter einen an der Sauerstoffflasche hängenden Malcolm McDowell (der Bad Boy aus «A Clockwork Orange»), der von Computern so wenig versteht wie sie. June Squibb, mit dreissig am Broadway, mit sechzig die erste Filmrolle (in «Alice» von Woody Allen), mit 83 für einen Oscar nominiert (Nebenrolle in Alexander Paynes Meisterwerk «Nebraska») nimmt hier in Kauf, dass es sie bei ihrer Eskapade auch einmal platt auf den Bauch schletzt. Hübsch, wie sie unterwegs ständig mit Unbekannten ins Gespräch kommt, die sie zu kennen meinte.
(Ab 17. Oktober im Kino)
Urschweizer, Unschweizer
«William Tell» – das wäre ein Film für Max Frisch. Hier hätte sein dekonstruiert-pyknischer Gessler (der ja nur die Deutschlehrer begeisterte, während die Schüler keine Ahnung hatten, worauf sich die Ironie bezog) sich abschauen können, wie man sportlicher Schläger und zugleich attraktiv infames Scheusal sein kann. Das Ganze spielt «in occupied Switzerland», wie ein wiederholter Zwischentitel verkündet, und wirkt wie einer Graphic Novel entsprungen: lauter Cartoon-Figuren, gelungen, prägnant, mit Anleihen bis hin zum Samuraifilm. Nick Hamm hat offenbar auch in der Schweiz gedreht, nebst Italien, aber von Schiller, auf dem das «based» sein soll, ist nicht viel zu merken. Hohle Gasse gibt’s zwar, aber nur als Zwischenscharmützel, danach fängt’s erst richtig an. Ebenso den Apfelschuss, den der zweifelsfrei nahöstlich «gelesene» Walter hier unter Tränen erwartet. Tell (Claes Bang) seinerseits spricht Arabisch, zwar nur ein Wort, aber immerhin. Anders die Gemahlin, die er mit dem Schwiegervater, der nun so etwas wie eine Art Imam vorstellt, aus dem Morgenland mitgebracht hat, wo er als Kreuzritter tätig war. Sie drückt sich nicht nur gern auf Arabisch aus, sondern erklärt den Eidgenossen auch, wie sie ihr Land zu verteidigen haben. Dies auf dem Rütli und dort in einer Höhle, die geradezu als Vorläuferin der Gotthardfestung erscheint. Überhaupt ist man mächtig divers zugange. Auch Bertha erweist sich als solide Kriegsstrategin, die den Männern allgemein und Tell im besonderen zeigt, wo’s lang geht beim Weg über den Berg. Alles in allem wohl die unterhaltsamste (und produktionstechnisch ambitionierteste) Verfilmung des Stoffs bisher.
«Tschugger – Der lätscht Fall»
Die Fernsehserie von David Constantin und Johannes Bachmann hat ja eine Neudefinition des Begriffs Katastrophenfilm unternommen: Nicht nur, dass die Katastrophe hier einem beängstigend engen Taktfahrplan gehorcht – sie hypostasiert geradezu in der Form von Bax (Constantin) und Pirmin (Dragan Vujic), den beiden hart an der Grenze zur Verblödung durchs Rhonetal segelnden Polizisten. Die erste Episode der abschliessenden vierten, zweieinhalbstündigen Staffel ist allerdings derart einfallslos – Hearing vor einem US-Senatsausschuss oder so –, dass man sich ernsthaft Sorgen zu machen beginnt. Nach einer halben Stunde ist das aber vorbei und die alte Hirnrissigkeit zurück, immer mit diesem furiosen Punch von Kamera und Schnitt, die dem Verstand keine Chance lässt, sich zu erholen.
(Im Kino)
Michael Krummenacher war seinerzeit federführend an der peinlich raunenden und ebenso peinlich bejubelten «Dystopie» mit dem Titel «Heimatland» (2015) beteiligt, einem Omnibusfilm. Auch in seinem «Landesverräter» geht es um Heimat. Nun aber um die Frage, wo diese zu finden ist und was sie zu tun imstande ist, wenn man sie verrät. Sein Protagonist, Ernst Schrämli, figurierte schon einmal im Titel eines Schweizer Films: Richard Dindos «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» (1977) nach der Reportage von Niklaus Meienberg. Wer nun aufgrund dieser Genealogie eine deutschschweizerisch beflissene Geschichtslektion erwarten sollte, wird sich überrascht vor einem Film wiederfinden, der von unerfüllter Sehnsucht handelt. Vehikel dazu ist ihm die Musik, und zwar über das vielfach variierte Thema Vögel – auch die Hauptfigur ist so etwas wie ein lädierter Paradiesvogel – ebenso wie über Chorgesang in seiner schlichtesten Form, so wie er etwa von Schulkindern geübt wird; Christoph Marthaler wäre da schon zu artifiziell. Hingegen darf man sich hin und wieder an Daniel Schmid erinnert fühlen, auch wenn dort die Oper den Gestus vorgab. Aber dieses unbestimmte Sehnen nach einem anderen Leben, das teilen die Figuren der frühen Filme Schmids mit diesem heimatlosen, vom Vater verstossenen Tagträumer, dem Dimitri Krebs eine anrührende Naivität verleiht. Kein Wunder, dass die Fabrikantentochter, die für den bornierten Geschäftsführer vorgesehen ist, sich in ihn verliebt. Luna Wedler gibt ihr ein ganz eigenes Gepräge, gerade auch durch ihr Singen, wohl ihre bisher prägnanteste Leistung. Einleuchtend die Figur des Nazikontaktmanns, der in Schrämli den Wunsch nach einer Sängerkarriere in Berlin weckt und den Anstoss zum Verrat gibt, und einleuchtend die Darstellung einer armen, aber nicht schäbigen Schweiz um 1940.
Lange wirft der Film mehr Fragen auf, als er beantwortet – eine rare Tugend im Schweizer Film; allerdings wird gegen den Schluss hin vieles dann eben doch noch nachgereicht. Der Film lässt keinen Zweifel daran, dass Schrämli ein Bauernopfer im wahrsten Sinn ist, sein Verrat von militärischen Geheimnissen eine Bagatelle war und mit der Erschiessung 1941 ein Exempel statuiert werden sollte – nach innen wie nach aussen. Das Finale mit der Erschiessung bewegt sich dann entschieden von allem allfälligen «Sozialrealismus» weg und steigert sich zur grossen Kantate. Beeindruckend.
(Ab 24. Oktober im Kino)
Und der Eröffnungsfilm?
Stolz ist man beim ZFF seit jeher auf die klangvollen Namen, die sich an die Limmat beziehungsweise ans Bellevue locken lassen. Den diesjährigen Reigen, den vor allem Schauspielerinnen bestritten, durfte Jude Law eröffnen, der «The Order» im Gepäck hatte, den jüngsten Film des Australiers Justin Kurzel. Law, nomen est omen, verkörpert darin zwar das Gesetz, aber nicht unbedingt die damit implizierte Ordnung. Seinen FBI-Agenten hat es 1983 aus Idaho hinüber nach Washington verschlagen, wo in einer abgelegenen Ecke Neonazis nicht nur anhand eines Jugendbuchs, «The Turner Diaries», die Machtübernahme im Land planen, sondern auch brutale Banküberfälle durchführen. Der Film aus dem Wilden Nordwesten hat den einen und andern Berührungspunkt mit David Mackenzies fabelhaftem «Hell or High Water» (2016), erreicht aber nie dessen Intensität.
Auch wenn Jude Law zur Freude des weiblichen Publikums einmal eine behaarte Brust à la manière de Sean Connery präsentieren darf, scheint sein Agent Terry Husk eher der «bloodline» von Gene Hackmans Jimmy Doyle in «The French Connection» entsprungen. Auch er geht über Leichen, verschuldet durch unprofessionelles Vorgehen den Tod eines jungen Kollegen, besitzt jedoch nicht den gemeingefährlichen Ingrimm von Hackmans «Popeye». Er ist zwar keineswegs blass, aber eben auch nicht wirklich beunruhigend. Spannung erhält der Film, dessen Ausgang – die Ausmerzung der Nazizelle 1984 – durch die historischen Daten vorgegeben ist, in den Momenten, da Husk plötzlich selber ins Visier der Gejagten gerät. Wie denn die «white supremacists», die den «Orden» des Titels bilden, sorgfältiger ausgearbeitet erscheinen als die Polizisten.
PS: Kein gedrucktes Programmheft mehr – und das bei einem Festival, das einem Verlagshaus gehört?