Die 23-Jährige gehört zu einer kleinen Gruppe junger Menschen, die gegen „die Diktatur des Bösen“ gekämpft hat. Es sei „höchste Zeit und heiligste Pflicht eines jeden, diese Bestien zu vertilgen“. Doch ihr Aufstand gegen das Nazi-Regime verpufft. Vor 75 Jahren werden Sophie Scholl, ihr Bruder Hans und vier ihrer Mitstreiter auf dem Schafott hingerichtet.
Nach dem Krieg wird die Widerstandsgruppe unter dem Namen „Weisse Rose“ bekannt. Aus Anlass des 75. Jahrestages der Enthauptung der Verschwörer legt die deutsche Historikerin und Journalistin Miriam Gebhardt eine wertvolle Abhandlung über die Gruppe vor. Darin räumt sie mit einigen Mythen und Verzerrungen auf, die sich im Laufe der Jahrzehnte in Literatur und Film angesammelt hatten.
Es gibt viele Bücher über die Weisse Rose. Vieles ist Spekulation und schlicht erfunden. Es brauchte 75 Jahre, bis jetzt eine detaillierte, differenzierte und sachliche Abhandlung über diese kleine Rebellengruppe vorliegt. *)
Über Hitlers Hund wissen wir alles
Über die Täter im Nazi-Regime wissen wir alles, schreibt die Autorin. Doch die Biografien der Widerstandskämpfer seien wenig erforscht.
„Himmlers, Goebbels’ und Hitlers Gehirnwindungen werden alle Jahre wieder in grossen Biografien durchleuchtet.“ So bestehe die Befürchtung, „dass wir bald mehr über Hitlers Hund wissen als über uns selbst“. Doch die Geschichtswissenschaft habe „erstaunlich wenig Kraft in die Erforschung der persönlichen Voraussetzungen des Widerstands investiert“.
Die meisten Bücher über die Weisse Rose stammten von Amateurhistorikern und Journalisten. Da will nun die Historikerin Gebhardt Abhilfe schaffen.
Die vergessenen Mitstreiter
Nach dem Krieg veröffentlicht Inge Scholl, die Schwester von Sophie und Hans Scholl, einen Weltbeststeller mit dem Titel „Die Weisse Rose“. Dieses Buch prägt bis heute die Erinnerung an die jungen Rebellen. Doch vieles wird verzerrt dargestellt. Inge Scholl verklärt ihre Geschwister und erklärt sie zu den Hauptprotagonisten der Gruppe.
Inge Scholls Buch führt dazu, dass allein Sophie und Hans Scholl auf den Sockel gestellt werden. Es gibt Schulen, Institute und Plätze, die nach ihnen genannt sind. Doch die andern vier Widerstandskämpfer spielten eine ebenso wichtige und mutige Rolle. Sie wurden mehr und mehr vergessen. Eine der Stärken des Buches von Miriam Gebhardt ist es, dass sie die vier weniger bekannten Mitglieder der Gruppe aus der Vergessenheit herausholt.
Sie überstrahlt alle – zu Unrecht
Vor allem die Rolle von Sophie Scholl wird überzeichnet und fast mystifiziert. Da gibt es eine Briefmarke mit ihrem Bild. In Filmen überstrahlt sie alle – zu Unrecht. Doch, so Miriam Gebhardt, andere Mitstreiter waren „genauso wichtig oder sogar wichtiger als sie“. Sie war weder Märtyrerin, noch „die Seele des Widerstands“.
Zur Gruppe gehören neben Hans und Sophie Scholl auch der russischstämmige Deutsche Alexander Schmorell, Willy Graf, Christoph Probst und später der in Chur geborene Philosophie- und Musikprofessor Kurt Huber.
Sie alle sind recht privilegiert, müssen nicht um ihr Leben kämpfen. Die Jungen studieren, interessieren sich für Philosophie, Literatur, Kunst und Musik. Doch „es gab kein kollektives ideologisches und ständisches Interesse“, das sie vereint, schreibt Gebhardt, so wie es etwa bei kommunistischen Widerstandskreisen der Fall war.
Begeisterte Hitler-Anhänger
Anhand detaillierter Biografien beschreibt die Autorin, wie alle Sechs ihren eigenen Weg zum Widerstand gefunden haben. Hans und Sophie Scholl sind zunächst begeisterte Hitler-Anhänger. Hans Scholl (Bild: Ludwig-Maximilians-Universität) hängt in seinem Zimmer ein Porträt von Hitler auf, der Vater hängt es ab, Hans hängt es wieder auf. Doch schon bald beginnen sich die Geschwister Scholl von den Nazis zu distanzieren.
Im Gegensatz zum Vater von Hans und Sophie Scholl ist der Vater von Willi Graf ein fanatischer Nazi. Er drängt seinen Sohn, der Partei beizutreten. Doch Willi ist der Einzige der Sechs, der Hitler von Anfang an hasst.
Kaum ein religöses Motiv
Was führt die Sechs zum Widerstand? Der Weg dorthin ist nicht gradlinig, und bei allen verläuft er anders. Sie sind schockiert über die Nachrichten, die sie von der Front erreichen – Nachrichten über die Brutalität der Armee, über Plünderungen der deutschen Besatzungsmacht, Berichte über ausgemergelte Kriegsgefangene, die Deportation und die systematische Ermordung von Juden. Hans Scholl und seine Freunde werden auch selbst ab und zu an die Front geschickt. Sie erleben Schreckliches und sehen die Verbrechen ihrer Armee.
Ein weiterer wichtiger Grund für ihren Gang in den Widerstand ist die Normierung der Nazi-Gesellschaft, die Gleichschaltung aller, ihre Fremdbestimmtheit. Ihnen fehlt der Raum für die Entfaltung eines eigenen Lebensentwurfs.
Die Kirche versucht immer wieder, bei den Widerstandskämpfern religiöse Motive auszumachen und die Rebellen zu vereinnahmen. Zwar haben sich die Sechs durchaus mit dem Glauben auseinandergesetzt. Doch das religiöse Motiv spielte laut Miriam Gebhardt eine viel kleinere Rolle, als da und dort vermutet.
„Schlichtweg böswillig“
Die Autorin räumt auch mit der Mär auf, die Mitglieder der Weissen Rose seien unpolitisch gewesen und zum Widerstand erzogen worden. Ihre Biografien sind derart verschieden, dass solche Pauschalaussagen nicht stimmen können.
Gebhardt geht auch auf die Behauptung ein, die Aufständischen seien unter Ephedrin-Drogen gestanden. Die Autorin sieht keine Indizien für diese „weit hergeholte“ These. Unterstellt wurde den Verschwörern sogar, sie hätten antisemitische Züge gehabt. „Diese These ist schlichtweg böswillig“, schreibt Gebhardt.
Die ersten Flugblätter
Anführer der Gruppe sind Hans Scholl und Alexander Schmorell (im Bild). Im Sommer 1942 verfassen die beiden innerhalb von nur zwei Wochen vier Flugblätter. Darin rufen sie die Deutschen auf, nicht länger zur Ermordung von Juden und zu andern nationalsozialistischen Verbrechen zu schweigen.
Die ersten vier Flugblätter unterzeichnen Hans Scholl und Alexander Schmorell mit „Weisse Rose“. Woher der Name kommt, ist umstritten, vielleicht ist er eine Anlehnung an einen Roman von B. Traven. Doch erst nach dem Krieg wird die Gruppe unter diesem Namen bekannt – wegen Inge Scholl, die ihrem Bestseller den Titel „Die Weisse Rose“ gibt. Die Verschwörer selbst nennen ihre Gemeinschaft nie so.
Ein Drittel der Empänger geht zur Gestapo
Die Flugblätter tippen sie mit einer Remington und vervielfältigen sie mit Matrizen. Die Auflage beträgt nicht mehr als hundert. Die Blätter werden per Post an ausgewählte Adressen, die man im Telefonbuch fand, verschickt. Über ein Drittel der Empfänger geht sofort zur Gestapo.
Im Flugblatt Nummer zwei heisst es: Es ist höchste Zeit und heiligste Pflicht eines jeden, „diese Bestien zu vertilgen“. Wer aus Feigheit zögere, noch Widerstand zu leisten, steigere stündlich seine Schuld, steht in Flugblatt Nummer 3. Jeder könne am Umsturz mitwirken.
Beim Flugblatt Nummer fünf und Nummer sechs hatte der viel ältere konservative Professor Kurt Huber mitgewirkt. Da heisst es: „Zerreisst den Mantel der Gleichgültigkeit ... Entscheidet Euch, ehe es zu spät ist.“ Von diesem Flugblatt werden bis zu zehntausend Stück gedruckt. Es wird weit über München hinaus verteilt. Auch Huber war einst, allerdings zögerlich, der NSDAP beigetreten.
„Bald werden sie hier stehen, wo ich jetzt stehe.“
Dann kommt der 18. Februar 1943. Hans und Sophie Scholl gehen mit einem Koffer in die Ludwig-Maximilians-Universität in München. Im Koffer befinden sich Exemplare des Flugblatts Nummer sechs. Die beiden begeben sich auf die Balustrade des Lichthofs der Universität. Und plötzlich flattern 80 bis 100 Flugblätter in den Lichthof hinunter. Sophie und Hans werden entdeckt und festgenommen.
Bei den Verhören machen die beiden, „vor allem das Fräulein“, einen absolut ruhigen Eindruck. Sophie soll den Satz gesagt haben: „Zusammenfassend möchte ich die Erklärung abgeben, dass ich für meine Person mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun haben will.“ Später, kurz vor ihrem Tod, soll sie dem Gerichtspräsidenten zugerufen haben: „Bald werden sie hier stehen, wo ich jetzt stehe.“
Im Zweiminutentakt
Am 22. Februar 1943 werden Sophie, Hans und Christoph Probst (Bild: Ludwig-Maximilans-Unversität), der dreifache Familienvater, im Zweiminutentakt enthauptet. Die Eltern von Sophie und Hans dürfen ihre Kinder noch in den Todeszellen besuchen. Die Mutter offeriert Sophie Süssigkeiten.
In einem zweiten Prozess, zwei Monate später, werden Alexander Schmorell, Kurt Huber und Willy Graf zum Tod verurteilt. Schmorell und Huber werden gleich hingerichtet.
Willi Graf verbringt ein halbes Jahr in der Todeszelle. Die Nazis versuchen ihm weitere Namen des Widerstands zu entlocken. Er schweigt und bleibt standhaft. Am 12. Oktober 1943 wird er enthauptet. Graf ist das am wenigsten bekannte Mitglied der Weissen Rose, obwohl er immer wieder mutig Flugblätter verteilte und „Nieder mit Hitler“-Inschriften an die Mauern malte.
Jubel in der Universität
Die Mitglieder der Weissen Rose „erlagen dem Trugschluss, noch viel mehr Deutsche stünden auf ihrer Seite“. Sie merkten bald, dass sie ziemlich allein waren. „Es wäre falsch, sich das Volk als Geisel Hitlers vorzustellen“, schreibt die Historikerin Gebhardt. „Die Entmachtung der Staatsbürger war zu einem Gutteil selbst gewollt.“ Ein grosser Teil der Deutschen habe Hitler „ganz bewusst den Steigbügel gehalten“. Die massiven Übergriffe auf Juden „lösten höchstens ein öffentliches Kopfschütteln, aber keinen lauten Protest aus“.
Die Mitglieder der Weissen Rose hatten gehofft, in der Universität würden viele mit ihnen sympathisieren. Zwei Tage nach den Hinrichtungen versammelten sich viele Studenten im grossen Vorlesungssaal der Münchner Uni. Ein Gau-Studentenführer nannte die Enthaupteten „ehrlose und niederträchtige Gesellen“. Darauf brach im Auditorium Jubel aus. „Hunderte Studierende johlten und trampelten Beifall ...“
Tiefe Gräben
Inge Scholl hatte in ihrem Buch ihre Geschwister in den Mittelpunkt aller Aktionen gestellt und die wichtige Rolle der andern Vier herabgesetzt. Das hatte Konsequenzen. „Inge Scholl hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass zwischen der Familie Scholl und den meisten Angehörigen der anderen Familien heute ein tiefer Graben verläuft“, schreibt Gebhardt. Diese Kluft vertiefte sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr. Der Sohn des hingerichteten Philosophieprofessors Kurt Huber befürchtet gar, Sophie werde eines Tages als Einzige der Weissen Rose übrigbleiben.
*) Miriam Gebhardt: Die Weisse Rose – Wie aus ganz normalen Deutschen Widerstandskämpfer wurden. Pantheon-Verlag, München, 368 Seiten, Februar 2018.