Nun liegen die Zahlen und Namen auf dem Tisch. Die Deutschen haben sich einen neuen Bundestag gewählt. In vielen Kommentaren heisst es, eine „Zeitenwende“ habe stattgefunden. Ist das wirklich der Fall?
Richtig ist, es war die erste Wahl nach vier Legislaturperioden, bei der Angela Merkel – die Bundeskanzlerin – nicht mehr auf den Stimmzetteln angekreuzt werden konnte. Und das Ergebnis bestätigt die These, dass in allererster Linie sie als Person für die Erfolge der CDU/CSU in den vergangenen 16 Jahren verantwortlich war.
Jetzt ist die Partei mit Armin Laschet als neuem Spitzenmann dramatisch geschrumpft. Triumphieren konnte (wenn auch nur mit hauchdünnem Vorsprung) die SPD. Um genau zu sein – es war der bisherige Bundesfinanzminister Olaf Scholz und gewiss nicht die Partei, denen das, noch vor wenigen Wochen unvorstellbare, Ergebnis zu verdanken war.
Buhlen um Grüne und FDP
Scholz also hat bei dieser Bundestagswahl gesiegt, wenn man nur die Zahlen gewichtet. Aber damit hat er lange noch nicht gewonnen. Denn jetzt wird es erst richtig losgehen. Mit dem Zusammenschmieden der künftigen Regierung nämlich.
Die beiden Haupt-Konkurrenten, Olaf Scholz und Armin Laschet, trennen lediglich 1,7 Prozentpunkte. Und das ermöglicht es dem Unterlegenen, theoretisch und rechnerisch ebenfalls eine Parlamentsmehrheit hinter sich zu scharen. Skurril an dieser Situation ist freilich, dass alle zwei Möchtegern-Regierungschefs um genau dieselben Majoritätsbeschaffer buhlen – um die Grünen und um die Freien Demokraten. Allerdings steht Laschet, der bisher fraglos ziemlich erfolgreiche Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen als grösstem deutschen Bundesland, unter besonderem Druck. Sollte er es nicht schaffen, Scholz und die SPD beim Kampf um den Einzug in das Berliner Kanzleramt doch noch auszustechen, wäre damit eher über kurz als über lang das Ende seiner politischen Karriere eingeläutet.
Aber wäre das schon eine Zeitenwende? Diese Bundestagswahl vom 26. September 2021 bedeutet auf jeden Fall eine Niederlage in historischen Dimensionen für die Partei, die in Deutschland seit Kriegsende am längsten und häufigsten die Regierungen stellte – die CDU/CSU. Sie verlor am vergangenen Sonntag mehr als fünf Millionen Stimmen. Ein Vergleich mit dem Urnengang vor vier Jahren zeigt das Ausmass des Fiaskos. Von den damals 15,3 Millionen „Merkel-Wählern“ blieb dieses Mal nur etwas mehr als die Hälfte (7,8 Millionen) den christdemokratischen und -sozialen Parteien treu. Unterm Strich verloren Armin Laschet und die Union rund drei Millionen Unterstützer vor allem an SPD, Grüne und FDP.
CDU/CSU – zum Regieren gezwungen
Wer vom Wahlvolk dermassen gebeutelt wurde, muss schon ziemlich viel Mut und Trotz aufbringen, um dennoch den Anspruch auf das Regierungsamt zu erheben. Oder aber die Verzweiflung ist gross, weil im Falle eines Scheiterns nicht nur das Ende von Laschets politischer Karriere droht, sondern – deutlich schlimmer noch – ein möglicherweise zerstörerischer Zwist innerhalb der zwei konservativen Schwesterparteien. Im Gegensatz zu der ja immer noch aus den einstigen sozialistischen Wurzen gespeisten Sozialdemokratie baut die CDU/CSU auf keinerlei Ideologie. Im Grunde muss sie regieren, um den Nachweis zu erbringen, dass sie gebraucht wird. Und das ist ihr in der deutschen Nachkriegsgeschichte im Grossen und Ganzen gelungen – und dem Land auch gut bekommen.
Entsprechend gross sind das Ansehen und die innerparteiliche Unterstützung der jeweiligen Personen, die der Partei die Staatsführung garantieren. Oder besser: Solange sie dies schaffen. Das war bei Angela Merkel der Fall, auch bei Helmut Kohl und Konrad Adenauer.
Laschets „Operation Kanzleramt“ aus der Position des Zweiten heraus ist ja nichts Anrüchiges oder gar Verbotenes. Bedeutende Sozialdemokraten haben das schliesslich schon vorgemacht. Und zwar mit Erfolg. Willy Brandt, zum Beispiel, vereinbarte 1969 mit dem damaligen FDP-Vorsitzenden Walter Scheel noch in der Wahlnacht die später – nicht zuletzt wegen der Ostpolitik – berühmt gewordene „sozialliberale Koalition“, obwohl die Union mit ihrem Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger fast die absolute Mehrheit errungen hatte. Es war seinerzeit sehr eng bestellt um das Bündnis, das jedoch vor allem deshalb so erfolgreich war, weil es sich strikt an dem trotzigen Spruch des SPD-„Zuchtmeisters“ Herbert Wehner orientierte: „Mehrheit ist Mehrheit!“. Und Ähnliches wiederfuhr Helmut Kohl später im Duell mit Helmut Schmidt. Auch hier eroberte der Hamburger aus der zweiten Reihe zunächst das Bonner Kanzleramt, obwohl der Pfälzer mit 48,8 Prozent fast die absolute Mehrheit geknackt hatte.
Kein Mitleid mit dem Verlierer
Wer solche Ergebnisse einfährt, den kann man nicht als Verlierer in die Wüste schicken. Doch am Ende dieses aktuellen Urnengangs steht die mickrige Prozentzahl 24,1. Und nicht nur das. Zum ersten Mal überhaupt ist die Union unter die 30-Prozent-Marke gerutscht. Deswegen muss Armin Laschet jetzt „liefern“, komme was da wolle. Entweder er schafft es, die deutlich gestärkten Grünen und die ebenfalls wieder stark nachgefragten Liberalen zu einer Dreier-Koalition hinter sich zu bringen, oder die Partei wird ihm die Gefolgschaft aufkündigen. Mitleid mit dem Verlierer? In der Politik gibt es so etwas nicht.
Aber auch Olaf Scholz wird seinen Wahl-„Sieg“ nicht auskosten können. Auch er muss um dieselben Hilfskräfte buhlen. Schliesslich ist mit dem überraschenden Abrutschen der „Linken“ ins politische Aus ein nicht unwichtiger Spielstein aus den Überlegungen herausgebrochen, die innerhalb der SPD im Vorfeld der Wahl angestellt und auch geäussert worden waren. Scholz selbst hat vermutlich keinen einzigen ernsthaften Gedanken an eine Koalition mit den SED-Nachfolgern verschwendet. Ganz anders etwa die Ko-Parteivorsitzende Saskia Esken oder der junge Berliner Vize-SPD-Chef Kevin Kühnert. Allerdings hatte sich der linke Parteiflügel seit dem Frühsommer nahezu vollständig aus dem öffentlichen Geschehen verabschiedet und erst jetzt wieder zu Wort gemeldet.
Wer kommt wem entgegen?
Es kann eigentlich kein Zweifel daran bestehen, dass sowohl die Grünen nach 40-jährigem Träumen davon als auch die Liberalen in eine Regierungsbeteiligung streben. Aber können mit einem Mal gegenseitige Abneigungen überwunden werden, die jahrzehntelang geradezu genüsslich gepflegt worden waren? Und wird das gemeinsame, grundsätzlich angestrebte Ziel einer klimaschutzgerechten Welt dabei helfen, tiefsitzende inhaltliche Unterschiede etwa bei der Wirtschafts-, Verkehrs- und Umweltpolitik zu überwinden?
Grüne und Liberale werden von SPD wie von CDU/CSU als Mehrheitsbeschaffer benötigt. Also werden ihre Forderungen entsprechend nachhaltig eingebracht. Es ist kein Geheimnis, dass die grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock und ihr Kollege Robert Habeck Präferenzen in Richtung Scholz haben. Umgekehrt gilt das für FDP-Chef Christian Lindner und Armin Laschet. Auch solche Dinge entscheiden oft beim Spiel um Macht und Einfluss.
Noch einmal – Zeitenwende. Eine ganze Generation in Deutschland ist herangewachsen mit einer Kanzlerin Merkel. Liegt es daran, dass eine Mehrheit der Erstwähler ihr Kreuzchen bei CDU und CSU gesetzt haben und sich – verblüffend genug – die Wähler von 50 aufwärts hinter der SPD versammelten? Und wodurch erklären sich die Wahlergebnisse zum Beispiel in den ostdeutschen Ländern Sachsen und Thüringen? Beide gehören erkennbar zur den Einigungsgewinnern mit hoch erfreulichen wirtschaftlichen Ergebnissen. Was bringt also die Bürger dort dazu, mit der AfD eine Partei mit unverhohlen nationalsozialistischem und rechtsextremem Gedankengut zur stärksten Kraft zu wählen? Fragen wie diese trüben natürlich erheblich die Genugtuung darüber, dass die am rechten Rand des deutschen Parteienspektrums agierende selbsternannte Alternative für Deutschland bundesweit deutlich geschrumpft ist und die Linke an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte.
Wer hält die Union zusammen?
Bleibt das Problem mit der Zukunft von CDU und CSU. Abgewählt zu werden ist, gar keine Frage, eigentlich eine Normalität in einer Demokratie. Allein schon deshalb, weil Personen und Programme sich in den Mühlen des Regierungsalltags ganz einfach mit der Zeit verbrauchen und neue, unverbrauchte Kräfte benötigt werden. Aber es braucht genauso Menschen, die den Wahlverlierer zusammenhalten und neue Ideen entwickeln in der Opposition. Noch ist in der Union der Aufstand gegen den Verlierer ausgeblieben. Er könnte es ja vielleicht doch noch schaffen. Und wenn nicht?