Die Russen haben den ersten Akt dieses Krieges verloren. Es gelang ihnen nicht, Kiew und andere grosse Städte schnell zu erobern. Aus Rache für ausbleibende Erfolge bombardieren sie jetzt Städte, Spitäler, Altersheime, Theater und Schulen. Doch ihr Vormarsch ist weitgehend steckengeblieben. Ein Kommentar.
Tausende russischer Soldaten wurden getötet, selbst die Generäle sterben den Russen weg. Die russischen Einheiten kämpfen mit Nachschubproblemen und sinkender Moral. Sie wurden in der Hauptstadt nicht mit Blumen empfangen, wie Putin es sich erträumte.
Dem Kreml-Herrscher ist es gelungen, einen beispiellosen Solidaritäts-Tsunami für die Ukraine auszulösen und den Westen, vor allem auch die Nato, zu einen. Damit hat Putin genau das erreicht, was er nicht wollte: eine geeinte Front gegen ihn und gegen Russland.
Die unerwartet harten weltweiten Wirtschaftssanktionen treffen sein Volk und seine Wirtschaft im Mark. Auf der Weltbühne ist er isoliert. 141 Staaten haben bei einer Abstimmung in der Uno-Vollversammlung Russland verurteilt. Nur vier Länder (Belarus, Nordkorea, Eritrea und Syrien) stimmten dagegen. Das gab’s noch nie. Ein «historisches Ereignis».
Schon wird im Westen da und dort David erwähnt, der den Goliath in die Knie zwingt. Doch ist da der Wunsch nicht der Vater des Gedankens? Die im Westen aufkommende Genugtuung, dass die Armee der zweitgrössten Militärmacht der Welt in der Ukraine versagt, könnte bald schwinden.
Denn der erste Akt dieses Krieges ist nicht der letzte. Putin macht täglich deutlich, dass er nicht aufgeben wird. Präsident Selenskyj sieht es wohl richtig, wenn er sagt, die Russen wollen uns jetzt hinhalten, um sich nach dem verpatzten Début neu zu organisieren.
Die virtuellen Verhandlungen zwischen einer ukrainischen und einer russischen Delegation benutzen die Russen offensichtlich, um Zeit zu gewinnen. Immer wieder meldet die russische Delegation, ja, es gebe Fortschritte. Vielleicht bald, vielleicht etwas später, ja, einige wichtige Fragen müssten noch gelöst werden, aber man komme sich näher.
Und während dieser Hinhaltetaktik wollen sich die Russen neu formieren, neue Nachschubwege errichten. Putin schickt frische Truppen in den Krieg. 150’000 Mann genügten offenbar nicht. Selbst die Belarussen müssen jetzt ran. Und die Tschetschenen sind schon da.
Werden die Verhandlungen missbraucht, damit die Russen neuen Anlauf nehmen können? Selbst wenn Moskau in einen Waffenstillstand einwilligte, sagte ein ukrainischer Beamter, hätte das wahrscheinlich zum Ziel, neue Kräfte zu sammeln.
Rund um Kiew «graben sich die Russen ein» und errichten Angriffs- und Verteidigungsstellungen, erklären westliche Geheimdienste. Das tut man nicht, wenn man den Krieg bald beenden will.
Und irgendwann, wenn sich die Russen neu aufgestellt haben, könnte es losgehen. Denn ohne Kiew als Beute steht Putin mit abgesägten Hosen da.
Allerdings werden unterdessen auch die ukrainischen Kräfte gestärkt. Immer mehr westliche Waffenlieferungen treffen ein. Modernste Flug- und Panzerabwehrraketen werden geliefert. Zudem haben die Anfangserfolge der ukrainischen Armee und ihrer zivilen Helfer ihre Moral gestärkt. Doch einige Erfolgsmeldungen der Ukrainer müssen mit Vorsicht aufgenommen werden. Sie dienen wohl vor allem der moralischen Aufrüstung der eigenen Truppen und der Bevölkerung.
Den ersten Akt des Krieges haben die Ukrainer gewonnen. Jetzt folgt eine «blutige Pause», wie ein amerikanischer Militärberater sagt.
Der zweite Akt könnte schrecklich werden, denn Putin kann nicht nachgeben, sonst wäre er erledigt, zumindest mittel- oder längerfristig.
Es ist zu befürchten, dass die Angriffe bald noch grausamer ausfallen als bisher: dass Putin auf «Alles oder Nichts» geht und einen Krieg der verbrannten Erde vom Zaun bricht. Wenn er nicht vorher gestoppt wird.