Die Auswahl an Möglichkeiten in der heutigen Moderne wird immer grösser und die Geschwindigkeit des Wandels nimmt zu. Das einzige, worauf wir uns verlassen können, ist der Wandel. Was heute noch richtig war, ist morgen verpönt, was heute in Mode ist, ist morgen schon out. Wie soll der Einzelne in diesen Zeiten noch ein stabiles, solides Selbst entwickeln? Wonach richten wir unsere innerste Haltung aus? Wo finden wir Halt?
Verschwimmende Grenzen
Bis gegen Ende der 80er Jahren waren die gesellschaftlichen Strukturen und die Feindbilder klar definiert. Wir kannten die geistige Landesverteidigung im Kalten Krieg, die Stimmen der 68er Generation gegen die starren Gesellschaftsstrukturen und gegen den Kapitalismus bis hin zu der Gründung der Grünen Partei für den Erhalt unserer Umwelt und die Abschaffung der AKWs („AKW – Nein danke!“). Diese Bewegungen hatten etwas Stabiles, und vor allem grenzte sich die eine Gruppe von anderen Gruppierungen klar ab. Es gab keine Zugehörigkeit zu „beiden“ oder nur „ein bisschen“, es galt die akkurate Grenzziehung des „Entweder-Oder“.
Heute sind die eindeutigen Feindbilder weitgehend verschwunden, die Gruppierungen unterscheiden sich oft nicht mehr deutlich voneinander und die Kinder der Grünen handeln nicht selten erstaunlich pragmatisch. So fahren sie zum Beispiel einen VW-Bus, um ihre Musikinstrumente für bevorstehende Konzerte einladen zu können. Und wenn dann schon so ein Auto herumsteht, warum mit ihm nicht gleich auch in die Ferien fahren?
Ablenkung vom Ich
Die meisten von uns fliegen in die Ferien und fahren dafür ein „ökologisches“ Automobil – oder gar keines - und zahlen, wo immer wir können, den CO2-Ausgleich. Welcher inneren Haltung entspringt ein solches Verhalten? Zu welcher Gruppierung gehören wir? Wo sind die abgrenzenden und ausschliessenden Merkmale der einen oder anderen Gruppierung? Bevor uns diese Fragen beschäftigen, kommt uns die Informationsflut entgegen und lenkt uns von solch schwierigen Themen ab. Immer ist Ablenkung da und stetig ändern sich die Ansichten über einen Sachverhalt. Wir schwimmen im Strom mit, lullen uns ein und entfernen uns allmählich von uns selbst.
Die Frage, wer bin ich und welcher inneren Haltung ich folge, wird erst gar nicht gestellt oder die Antwort bleibt offen. Parallel dazu verzeichnet unsere Gesellschaft eine Zunahme der psychischen Krankheiten und Erschöpfungssymptome. Psychotherapeuten und Psychiater stellen bei den zu behandelnden Menschen nicht selten eine Sinnentleerung fest. Wie kommt es dazu?
Wert der Langeweile
Die Aussenorientierung nimmt zu. Wer ich bin, zeigt sich an meinem Besitz, dem gesellschaftlichen Status und wofür mich die anderen halten. Wir überlassen also der äusseren Welt die Definition über unser Inneres. Gerade in der heutigen Zeit besässen wir aber die Freiheit, das zu sein, wozu wir uns selber entschliessen. Es ist ein Paradoxon, dass wir die Freiheit, die wir de jure haben, de facto nicht nutzen und uns über Äusserlichkeiten definieren lassen.
Gleichzeitig lassen wir unser Innerstes verkümmern und entfernen uns von unserem Selbst. Unsere Kinder müssen, weil das Gehirn zu diesem Zeitpunkt so ungemein aufnahmefähig ist, Frühenglisch, Frühchinesisch, Frühgeige, Früh-… was immer lernen, wobei auch der Sport, die Reitstunde und das Ballett nicht zu kurz kommen sollen. Wo bleibt die Zeit für die eigene Entwicklung? Langeweile, Momente des Innehaltens, der nicht gefüllten Zeiten, rufen Kreativität hervor und ermöglichen die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst. Solches steht allerdings nicht im Stundenplan und wird nicht unterrichtet.
Sucht nach Anerkennung
Grundsätzlich gilt: Nehmen wir uns nicht mehr die Zeit, uns unserem Selbst zu widmen, zu fragen, welchen Lebensprinzipien wir folgen wollen, wodurch wir innerlich motiviert werden, was wir wirklich gut und gerne tun, ohne von aussen dazu gedrängt oder dafür bewundert zu werden, so schaffen wir den Nährboden für einen ungesunden Narzissmus. Dem Narzissten ist eigen, dass er nicht weiss, was er wirklich gut kann und was ihm innere Zufriedenheit verschafft.
Er richtet sich nach seiner Umgebung und tut das, wovon er denkt, dass er am meisten Bewunderung erhält. Er strebt nach einer Position in einem sozialen System und verschmilzt mit ihr, weil er daraus auf sein Selbst schliesst. Dieses Selbst entbehrt aber jeder gefestigten Grundlage. Nur Lob und Bewunderung der anderen verschaffen ihm die Gewissheit, dass es existiert.
Die nachfrageerzeugende Produktion von Konsumgütern tut ihr übriges, um das narzisstische Ich zu nähren, indem der Besitz scheinbar Anerkennung und Status verschafft. Der Bewunderungsanspruch wird zur Sucht, weil das Ich ohne Fundament niemals satt wird, denn das Lob fällt schliesslich ins Leere. So geht der Narziss durch die Welt, immer im Gefühl, im Leben zu kurz gekommen zu sein und zu wenig Beachtung gefunden zu haben. Schuld daran sind andere.
Das gefestigte Selbst
Deswegen nimmt er sein Umfeld in die Pflicht, es hat dafür zu sorgen, dass er in seiner Position bestätigt wird und seine Gier nach Zufriedenheit gestillt wird. Dieser Vorgang ist existenziell, denn die Position zu verlieren hiesse, das Selbst zu verlieren und in der eigenen Leere zu verschwinden. Bei so viel existentieller Konzentration auf Erhalt, Festigung und Erweiterung der eigenen Stellung ist kein Raum für Empathie.
Beziehungen werden nach einer arithmetischen Kosten-Nutzen-Rechnung gemacht. Wer meine Position festigt und mir Glanz verleiht, der ist es wert, dass ich zu ihm eine Beziehung unterhalte. Es ist wohl nicht erstaunlich, dass solche Charaktere nicht selten einen gesellschaftlich hohen Status haben und auch in höheren Managementetagen anzutreffen sind.
Der Preis hierfür ist allerdings hoch – es ist der Verlust des ursprünglichen und einzigartigen Selbst, auf einem stabilen Fundament. Das Selbst, das uns eine klare innere Haltung und Ausrichtung verleiht. Einen sicheren Boden, auf den wir uns verlassen, um uns selber mit Selbstachtung, Selbstvertrauen und echter Wertschätzung begegnen zu können. Ein Selbst, welches ein Positionsverlust und andere Verluste gut bewältigen kann. Wir zahlen den Preis der Emotionslosigkeit. Emotionen zu haben und sie mitteilen zu können, hiesse spontan, ohne Erwartungen auf Gegenleistung, auf unser Gegenüber zu- und eingehen zu können. Es hiesse, Vertrauen und Halt geben, damit wir Beziehungen und schliesslich auch unsere Gesellschaft auf starkem Fundament aufbauen können.
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