Eigentlich hatten wir lediglich Heimweh nach jener einzigartigen Landschaft, durch welche wir während Jahrzehnten immer wieder gewandert waren, wenn wir in Reinach (BL) die Eltern meiner Frau besuchten und dazwischen unseren Hunden etwas Bewegung gönnten.
Vom Rebberg zwischen Reinach und Therwil führte unser Weg jeweils zuerst durch die Stägmatte, eine ehemalige sumpfige Senke, wo nach ihrer Trockenlegung während des Zweiten Weltkrieges ein malerisches Nebeneinander von kleinen Äckern, Schafweiden, Obst- und Schrebergärten entstanden war, das sich bis in die Gegenwart erhalten hatte, trotz des Baus der Umfahrungsstrasse nach Therwil durch das kleine Paradies Ende der 1960er Jahre. Weiter hinten im Tälchen war vor gut 90 Jahren der Erlenhof gebaut worden, ein Erziehungsheim für „Burschen", wie es damals ungeschminkt hiess. Heute hat man dafür eine politisch korrektere Umschreibung: „Zentrum Erlenhof – Institution für Neuorientierung, Entwicklung und Ausbildung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen“.
Bekannte Formationen
Ausser der braunen Erde erinnerte einzig ein enger Bretterverschlag, der verloren auf einer Wiese stand, dort langsam zerfiel und schliesslich eines Tages verschwunden war, an das einstige Feuchtgebiet mit offenen Wasserflächen, auf denen sich damals auch Enten getummelt hatten. Das Hüttlein hätte den Entenjägern als Unterstand und Versteck gedient, hatte ich von meinem Schwiegervater erfahren.
Unsere Hunderoute führte dann den Hügel hinauf zum Waldrand und, nach einem kurzen Gang durch den Leiwald, zu einem Picknickplatz mit Feuerstelle, von wo sich der Blick auf eine anrührende Landschaft öffnete. Wie in ihrem Gang erstarrte Wellen liefen von Westen her, aus dem nahen Elsass, sanfte Hügel ins Birseck hinüber, wo sie, wie die Brandung des Meeres, am Gempenplateau, dem nördlichen Ausläufer des Jura, zu brechen schienen. Im Süden wurde das erdige Meer durch die Hochebene des Klosters Mariastein und den Landskronberg – er liegt mit seiner mächtigen Burgruine bereits auf französischem Territorium – begrenzt. Dahinter lagen, wie ein dunkler Riegel, die bewaldeten Höhen des Blauen.
Was an Fremden drängte hier – und drängt noch immer – von Westen her hinein in die Schweiz, deren Topografie doch eigentlich stotzig, trutzig und felsig ist? – Was sind das für mollige Hügel, auf denen sich die Ähren im Winde wiegen und die so gar nicht zu uns zu gehören scheinen? – Wer das südliche Elsass kennt – und welcher Basler täte das nicht! –, dem sind diese Geländeformen bestens bekannt. Sundgauer Hügelland nennt man seit dem Mittelalter die Gegend. Damals hatten sich die ansässigen Bauern wohl kaum nach dem Ursprung ihrer sanften Wellen gefragt. Sie waren einfach immer schon da, Gottes Werk sozusagen, ein gutes überdies, nämlich bestes Acker- und Wiesland.
Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wollte man es wissen, zumindest im Rheintal nördlich von Basel, wo man Alemanisch spricht, und der fruchtbaren Erde, aus denen die Hügel bestehen, einen Namen gab: Löss – nach dem alemanischen Wort „lösch“ – lockerer Boden. Löss besteht aus feinen, tonhaltigen Partikeln, Schluff oder Silt genannt. Über seine Herkunft streitet man sich bis heute. Zuerst dachte man, Löss sei als Ablagerung im Wasser entstanden, als Sediment also, aber dann kam die These auf, Löss sei das Produkt äolischer Ablagerung, das heisst Ablagerung von durch Wind verfrachtetem Staub.
Notlandung
Tatsächlich ist gut zehn Prozent der globalen Landfläche durch Löss bedeckt, in Europa vor allem das Rheintal nördlich von Basel und die ausgedehnten Tiefebenen im Norden. Die Verfrachtungen fanden während Trockenzeiten statt, wahrscheinlich während den Eiszeiten. Natürlich ging und geht dieser Staub auch auf die Schweiz nieder (man denke nur an den Saharastaub, der nach gewissen meteorologischen Konstellationen in den Alpen den Schnee rötlich färbt), aber mengenmässig spielen hier äolische Ablagerungen im Vergleich zur Erosion durch Niederschlag, Bäche und Flüsse keine Rolle.
Nur im Norden der Schweiz, im Kanton Schaffhausen und südlich von Basel, wo die Gletscher nicht hinreichten, formte der äolische Staub die Topografie. Zwischen Therwil, Reinach und Aesch drangen die östlichen Ausläufer der Sundgauer „Löss-Dünen“ über die Grenze in die Schweiz vor. Mitten drin liegt der Schlatthof. Seit 1930 gehört das Bauerngut der Christoph Merian Stiftung. Sein fruchtbares Wiesen- und Ackerland, ungefähr 110 Hektaren gross, dehnt sich wie ein Teppich über die weichen Hügel.
Die Schwiegereltern sind längst gestorben, ihr wohnliches Haus durch moderne Betonwürfel ersetzt, aber unsere Erinnerungen an sie noch immer innig mit der besonderen Landschaft um den Schlatthof verbunden. So fuhren wir anfangs November Richtung Basel, liessen das Auto beim Reinacher Friedhof stehen und wanderten dem Leiwald entlang zum Schlatthof. Und tatsächlich: Alles war wie früher, die Zeit schien stille gestanden zu sein: Das hohe Haupthaus, dessen Fenstersimse aus rotem Sandstein auf die Nähe zu Basel und seinem roten Münster hinweisen, darum herum die Ökonomiegebäude des stattlichen Bauernhofes, der Freilaufstall, der riesige, halb in den Boden eingelassene Güllentank, die Obstbaumkolonie im Süden, dem wir entlang gingen bis zur Weggabelung, wo der Gedenkstein steht, der an jenen 14. Oktober 1943 erinnert, als hier eine fliegende Festung, eine B-17 der 8. US Army Air Force, notlandete.
Gedanken an den Tod
Im Internet hatte ich die ausführliche Geschichte dieses Fluges gefunden. Der Bomber mit zehn Mann Besatzung war Teil eines Geschwaders gewesen, welches den Auftrag hatte, über Schweinfurt eine Kugellagerfabrik zu bombardieren. Alle Flugzeuge wurden von den Deutschen abgeschossen bis auf dasjenige des Leutnants Dienhart, dem es gelang, trotz mehrerer Einschüsse und einem tödlich verletzten Navigator sein Flugzeug mit einem einzigen steuerbaren Motor bis in die Schweiz zu fliegen, wo ihm beim Schlatthof in einem Kartoffelacker eine Notlandung gelang, welche alle acht verbliebenen Besatzungsmitglieder überlebten – zwei weitere waren noch über Deutschland mit dem Fallschirm abgesprungen. Der Navigator Donald T. Rowley starb am nächsten Tag, 22 Jahre alt, im Basler Kantonsspital an seinen schweren Schussverletzungen.
Pilot Dienhart, dem beim Beschuss alle Landkarten aus dem Flugzeug geweht worden waren, und seine Besatzung hatten grosses Glück. Wären sie noch einige Kilometer weiter Richtung der Festung Landskron und ins Sundgau geflogen, wären sie nicht vom herbeigeeilten Schweizer Bauernsohn Oskar Hell, sondern von den deutschen Besatzern des Elsass empfangen worden. – Nachzutragen bleibt, dass der Schütze Christy Zullo während seiner Internierung in Adelboden seine spätere Frau kennen lernte und so mit der Schweiz verbunden blieb ...
In einem grossen Bogen wanderten wir um den Leiwald herum und zurück zum Reinacher Friedhof. Weil die Schrift verblasst war, mussten wir lange suchen, bis wir das Urnengrab der Eltern meiner Frau wiederfanden. Als wir dort standen und an die hier Beerdigten dachten, an ihr reiches und langes Leben, wurde uns plötzlich bewusst, wie sehr uns heute das Phänomen des Todes begleitet hat, hier auf dem Friedhof, oben auf dem Schlattfeld vor der Gedenktafel für die Besatzung des notgelandeten Bombers, der ja seinerseits andern den Tod gebracht hatte, und schliesslich angesichts der täglich gemeldeten Zahlen der Corona-Toten, erschreckend hoher Zahlen, die wir – wohl zu unserem eigenen Schutz – immer öfter nur noch als Ziffer und nicht als individuelle Lebensschicksale zur Kenntnis nehmen, zumindest solange das Schicksal nicht plötzlich unsere Familie oder unseren Freundeskreis betrifft.
Geburt und Tod
Und das alles wenige Wochen vor Weihnachten, an der wir ja nicht den Tod, sondern eine Geburt feiern. Doch vielleicht ist beides sehr viel enger miteinander verwoben, als wir uns das eingestehen. Jede Geburt schliesst auch den Tod ein. Ob schon nach 22 Jahren, wie im Fall des amerikanischen Navigators, oder erst nach fast einem vollen Jahrhundert, wie im Falle meines Schwiegervaters, ändert letztlich nichts an der Unzertrennlichkeit der beiden Eckpfeiler unseres Lebens. Die Mexikaner haben diese Erkenntnis in ihr Denken und Fühlen aufgenommen: Am 1. und 2. November, den dias de los muertos, zelebrieren Jung und Alt, Erwachsene und Kinder, auf den Friedhöfen das Leben und den Tod mit rauschenden Festen.
Und noch etwas kam mir in den Sinn auf dem Reinacher Friedhof am Rande des Sundgauer Hügellands, wo sich einst der Staub der Jahrmillionen abgelagert hat, jener Staub, zu dem auch wir alle wieder werden, wenn sich dereinst die Erinnerung an unsere Existenz auf wenige mineralische Elemente und Verbindungen reduziert hat. Ich dachte zurück an unsere Reise durch China vor mehr als 25 Jahren, als wir mit unserem Führer, den uns die Chinese Academy of Science zur Verfügung gestellt hatte, nach dem Besuch des Museums der „unterirdischen Armee“ in Xi’an zum gelben Fluss gefahren waren. Das Wasser hatte tiefe Schluchten in das weiche Lössgebirge gegraben, das einst in Form von Staub aus der Wüste Gobi hierher verfrachtet worden war. Allein standen wir in der bizarren Landschaft, hörten das Wasser leise rauschen, als unser Führer eine Flöte aus seiner Tasche zog und zu spielen begann. Seine Musik, wie auch der Fluss in jener Landschaft, der etwas Vorübergehendes anhaftete, mahnten uns an die Vergänglichkeit der Welt. Als der letzte Ton verklungen war, überreichte mir der Spieler sein Instrument mit einer leichten Verbeugung und lächelte dazu. Ich habe seine Flöte bis heute aufbewahrt.