Freitag, der 17. Dezember 2010, der Tag, an dem sich der Gemüsehändler Muhammad Būʿazīz in der mitteltunesischen Industriestadt Sidi Bouzid selbst in Brand setzte, gilt gemeinhin als Beginn des Arabischen Frühlings. Der Ausdruck wurde am 14. Januar 2011 geprägt, als der tunesische Präsident Bin ʿAlī ausser Landes floh und als sich abzeichnete, dass sich eine ähnliche Proteststimmung auch in anderen arabischen Ländern ausbreitete.
Hingegen gibt es keinen Konsens in der Beurteilung, wann der Arabische Frühling endete. In den Medien verliert der Begriff nach dem Militärputsch in Ägypten am 3. Juli 2013 und dem Massaker auf dem Rābiʿa al-ʿAdawīya-Platz in Nasr City in Kairo und dem Nahda-Platz in Gizeh deutlich an Bedeutung (zeitgleich mit den Gezi-Park-Protesten in Istanbul). Als ereignisgeschichtlicher Zeitraum bietet sich so an, den Arabischen Frühling auf die Zeit zwischen Januar 2011 und August 2013 zu begrenzen.
Kriege in Libyen, Syrien und Jemen sowie spätere Protestwellen und Revolten (Algerien, Sudan 2018/19, Libanon, Irak seit 2019) stehen zwar in einer Kontinuität mit dem Arabischen Frühling, müssen aber als eigenständige Ereignisketten rekonstruiert und interpretiert werden. Manche Beobachter vermuten einen typologischen Zusammenhang mit den «Farbenrevolutionen» seit 2003 (daher «Jasminrevolution» in Tunesien 2010/11) und der Occupy-Bewegung 2011/12.
Was ist ab 2010 eigentlich geschehen?
Ebenfalls keinen Konsens gibt es bis heute darüber, wie die Prozesse der Jahre 2010–2013 periodisiert und benannt werden können. War das, was geschah, eine Revolution, eine Revolte, ein Umbruch? Da die politische Programmatik in den Revolten weder einheitlich noch ideologisch auf eine Gesellschafts- oder Staatsutopie ausgerichtet war und da es kein anderes Handlungsziel in den Revolten gab ausser der öffentlichen Manifestation eines Protestwillens, ist es wenig sinnvoll, die Revolten mit dem Revolutionszeitalter der Moderne – 1773/1783 amerikanische Unabhängigkeit, 1979 Islamische Revolution in Iran – in Verbindung zu bringen.
Eingeschränkt lässt sich eine Parallele zu den Revolten in Mittel- und Osteuropa ziehen, die ab 1989 zur Abschaffung der dortigen kommunistischen Systeme führten. Die Revolten des Arabischen Frühlings zielten vor allem auf einen Sturz «des Systems», womit faktisch die Herrschaftsgewalt der Staatseliten gemeint war, und auf einen Machttransfer. Zwar macht es Sinn, einzelne Elemente der europäischen Revolutionsgeschichte für eine Deutung der Vorgänge zu nutzen, doch sollten die Revolten des Arabischen Frühlings als eigenständige Form sozialen, politischen und kulturellen Protests verstanden und beschrieben werden.
Keine Veränderung der politischen Ordnung
Unbestritten ist, dass der Arabische Frühling und seine Folgen einen politischen Prozess in fast allen Ländern des Nahen Ostens ausgelöst haben. Die politische Landschaft hat sich seit 2010 damit grundlegend verändert. Diese Änderungen beziehen sich nicht nur auf die Herrschaftsordnung, sondern auf die gesamte politische Konstellation. Unter der Überschrift «Krise der Repräsentation» wurde versucht, diese Neuordnung einzufassen und zu deuten.
Der Arabische Frühling hat zwar zu innenpolitischen Machtverschiebungen geführt, aber nirgendwo zu einer Transformation der politischen Ordnung. Selbst in Tunesien, wo sich eine heute allerdings zur Diskussion stehende parlamentarische Demokratie entwickelt hat, blieb das Repräsentationssystem auf die Eliten beschränkt. Die Kluft zwischen Staatseliten und Bevölkerung wurde nicht durch eine Formalisierung der politischen Beteiligung der Gesellschaft überwunden; eine Rechenschafts- und Verantwortungspflicht der staatlichen Gewalt gegenüber der Gesellschaft kam nirgendwo zustande. Die Definitionsmacht der Staatseliten über die Gesellschaft wurde nicht gebrochen.
Mit dem Machtantritt der Muslimbrüder in Ägypten 2012 vertiefte sich die Kluft. Die Eliten beargwöhnten mehr und mehr die Bevölkerung «ihrer» Länder als potentielle Rebellen und Meuterer, als Behemoth, gegen den sich der absolute Staat als Leviathan – ganz im Sinne der Staatstheorie von Thomas Hobbes – durchzusetzen habe. Die Leviathanisierung der Staatsgewalt war so ein herausstechendes Merkmal der Politik in vielen nahöstlichen Ländern. Die erblichen Monarchien haben hier einen Vorteil, da ihnen ein absolutistisches Moment innewohnt, welches die Bevölkerung als vereinte Gemeinschaft von Untertanen definiert. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Umstritten ist zurzeit vor allem der Machttransfer in Libanon, Irak und Tunesien.
Veränderte Geschlechterrollen, geschrumpfte Mittelklasse
Ohne die Erfassung des sozialen Wandels im Nahen Osten wird man kaum den politischen Prozess der vergangenen zehn Jahre im Nahen Osten erfassen können. Dieser Wandel veränderte nicht nur die soziale Kohäsion in den nahöstlichen Gesellschaften, sondern schuf zum Teil völlig neue soziale Räume und Vorstellungswelten, die die Transformationen im Nahen Osten markieren. Der Arabische Frühling machte diesen Wandel öffentlich.
In den Protesten und Revolten wurden die Veränderungen der Geschlechterrollen, der Generationenordnung, der Familienordnung, der Arbeitswelt und der Formen der Vergemeinschaftung sichtbar. Diese lassen sich schon auf Jahre zurückverfolgen, doch hatten sie kaum Öffentlichkeit. Ausnahmen waren u. a. die Proteste in Libanon 2005 («Zedernrevolution», der sogenannte erste Arabische Frühling), Ägypten 2008 (Streikbewegung) und Iran 2009/10 («Grüne Bewegung»).
Sichtbar wurde, wie stark sich die Geschlechterrollen und vor allem das Geschlechterverständnis verändert hat. Der Anteil von Frauen in der Arbeitswelt hatte sich bis 2010 fast überall deutlich erhöht (mit Ausnahme von Algerien und Syrien). Die lebensweltlichen Generationengemeinschaften wurden vielfach zugunsten von Kleinfamilien aufgelöst. Das durchschnittliche Heiratsalter stieg um mehrere Jahre. Die Geburtenrate ist vor allem in den nordafrikanischen Ländern seit den 1990er Jahren gesunken. Die Einkommensverhältnisse haben sich vor allem in der Mittelklasse stark verschlechtert; die Mittelklasse selbst schrumpfte fast überall. Spürbar war auch der Rückzug des Staats als Arbeitgeber, was vor allem in den alten staatsdirigistischen Republiken wie Algerien, Irak und Ägypten zu sozialen Verwerfungen führte.
Hingegen schuf die im Nahen Osten mit zehnjähriger Verspätung einsetzende Globalisierung die Voraussetzung für die Herausbildung einer neuen Generation, die sich als «Jugend» verstand und die ihre lokalen Lebenswelten mit neuen virtuellen Welten verknüpfte. Der Begriff Jugend (shabāb) formte eine neue soziale Vorstellungswelt, die sich deutlich von den Eliten absonderte. Unter diesen Bedingungen entwickelten sich auch neue Formen der Gruppenbildung innerhalb der Protestbewegung, die teilweise schon spätere identitätspolitische Merkmale vorwegnahmen.
Säkularisierung und Entkonfessionalisierung
Der Arabische Frühling, so zeigt sich heute in einer ersten Retrospektive, war nur der Höhepunkt eines komplexen Prozesses des kulturellen Wandels. Dieser kann am ehesten mit dem Säkularisierungsprozess verglichen werden kann, der die Gesellschaften der meisten west- und mitteleuropäischen Länder zwischen 1955 und 1975 erfasste. Umstritten war denn auch vor allem die Rolle der Religion und damit des Islam in der öffentlichen Ordnung.
Der Machtantritt der Muslimbrüder 2012 in Ägypten und der Wahlerfolg der Nahḍa-Partei in Tunesien weckten die Erwartungen an einen «islamischen Aufbruch» der Mittelklasse im Bündnis mit lokalen Unternehmern. Die türkische AKP und die Politik des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Recep Erdoğan galten als Vorzeigemodell einer islamisch-konservativen Politik.
Es zeichnete sich aber schon 2012 ab, dass die Golfstaaten und vor allem die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien ihr altes taktisches Bündnis mit den Muslimbrüdern als Akteure einer gesellschaftlichen Modernisierung aufgaben. Die Übernahme der Präsidentschaft Ägyptens durch den Muslimbruder Muḥammad Mursī machte deutlich, welche Gefahr in einer rechtspopulistischen und nationalkonservativen islamischen Politik verborgen war. Der Putsch in Ägypten 2013 wurde daher von Saudi-Arabien und den Golfstaaten ausser Qatar sofort begrüsst.
Ängste der Eliten vor Emanzipationstendenzen
Dies läutete zugleich den politischen Niedergang des klassischen Islamismus der Muslimbrüder ein, die mehr und mehr aus der politischen Öffentlichkeit abgedrängt wurden. Die wahhabitische Orthodoxie in Saudi-Arabien wurde gleichfalls entmachtet. Der «politische Islam» galt fortan als Kraft, die im Volk den Hobbes’schen Behemoth wecken könnte, die also das Volk zu Meuterern und Rebellen werden lässt.
Zugleich verloren religiöse Institutionen in vielen Bereichen der Gesellschaft die Kontrolle über die Einhaltung islamischer Normen. Markantes Beispiel ist der Rückgang der Zahl der Frauen, die in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen. Der Habitus der Islamisten, die seit 2013 mit dem abwertenden Begriff islamǧīyūn («Islamisten») belegt werden, findet immer weniger Anerkennung. Lebensentscheidungen und Lebensstile werden deutlich seltener mit islamischen Traditionen begründet.
Zugehörigkeit statt Spaltung
Die Säkularisierung hat in einigen Ländern (Irak, Syrien und Libanon) zu einer Erneuerung konfessioneller Ordnung geführt, in der das Religiöse nunmehr fast ausschliesslich als Merkmal einer Zugehörigkeit verstanden wird. Konfessionalität und damit die Differenz zwischen Sunniten und Schiiten können daher unter den Bedingungen der Säkularisierung nicht mehr als religiöse «Spaltung» verstanden werden, sondern lediglich als Ausdruck einer Zugehörigkeit. Soziale Handlungsfelder werden mehr und mehr von den konfessionellen Ordnungen des Religiösen entflochten und neu definiert.
Es hat sich gezeigt, dass «Zugehörigkeit» in vielen Ländern zu einem neuen Verständnis von Vergemeinschaftung geworden ist. Hier zeigt sich eine gewisse Nähe zu ähnlichen Diskursen im Westen.
Ob der zeitweilige Erfolg ultraislamischer Bünde in den Kriegs- und Konfliktländern als Resultat des Arabischen Frühlings anzusehen ist, wird die historische Forschung in den kommenden Jahren zu beurteilen haben. Die kurzlebige Gebietsherrschaft, die der «Islamische Staat» 2014/16 in Teilen des Fruchtbaren Halbmonds, in Nordsinai, Zentrallibyen und Südjemen errichten konnte, deutet auf eine Krise der dortigen sozialen und politischen Ordnung hin. Diese war in einigen arabischen Ländern durch die internen Kriege so geschwächt, dass sie anfällig wurden für die Expansion ultraislamischer Nischen, die es seit 1992 in der arabischen Welt gibt.
Das Jahr 2011, also das Jahr des Arabischen Frühlings, hat so den Charakter eines arabischen «1968»: Die Revolution scheiterte, doch zugleich zerbricht in einer longue durée die sozio-kulturelle Ordnung, die diesen Frühling mit hervorgebracht hat.
Die neuen Retrotopien
Die Vorstellungswelten im Nahen Osten, die lange Zeit durch politische Utopien geprägt waren und für die der Begriff «Palästina» geradezu symbolische Funktion hatte (man denke an das Palästinensertuch), sind heute durch Retrotopien geprägt, durch Ordnungsmuster des nostalgischen Anknüpfens an ein Zeitalter der Unschuld, durch ein Anknüpfen an «Antworten, die schon gestern gescheitert sind» (Bauman).
Retrotopien ersetzen Utopien, gleichermassen in säkularer wie in religiöser Sprache. Nation und Religion werden retrotopisch gefasst; die Nation wird zum Sehnsuchtsort einer umgedeuteten und neubewerteten Vergangenheit. Retrotopien sind nur Vorstellungswelten, die darauf beruhen, dass die «Zeit aus den Fugen geraten ist», wie Aleida Assmann es 2013 schon ausführlich dargelegt hat.
In den nahöstlichen Welten haben Retrotopien massiv an Bedeutung gewonnen. Sie bilden nicht nur den Rahmen für die Legitimierung herrschaftlicher Macht, sondern repräsentieren zugleich den Protestraum der Bevölkerung gegen die staatlichen Gewalten, vor allem gegen die Exekutive.
Als Retrotopie verkörpern Nationen keine Hoffnung mehr im Sinn einer optimistischen Zukunftserwartung. Retrotopien wollen sich weder durch «Befreiung» noch durch «Revolution» verwirklichen, sondern durch «eine relativ homogene Identität» real werden. Nationen sollen Ideale verwirklichen, diesmal aber nicht als Projektion einer Idealzukunft, sondern als ästhetisches Ensemble von Stilen, Moden, Praxen und Einstellungen, die sich an Vergangenem orientieren.
Planstädte als neo-orientalische Projektionen
Bemerkenswert ist, dass selbst ultraislamische Bünde solchen Retrotopien frönen. Auch ihre «Vision» einer islamisch-endzeitlichen Ordnung gründet auf einem nostalgischen Zugriff auf eine islamische Vergangenheit, die als Heilszeit gedacht ist und die in der Gegenwart wiederaufgeführt werden muss. Dass dies neo-orientalische Projektionen sind, braucht nicht weiter betont zu werden.
Dabei handelt es sich nicht um blosse Rückerinnerungen oder nostalgische Wiederbelebungen der Vergangenheit, sondern um die Projektion der Gesamtheit des Vergangenen, die in einer «Nation» gefasst wird, als Dekor einer Zukunft. In der Moderne war der Staat das Organ, das die Nation repräsentierte. In der postmodernen Gegenwart bekommt die Nation eine soziale und materielle Gegenwart zugewiesen, die sich gerade in den arabischen Golfstaaten zeigt.
Die saudi-arabische Planstadt Neom und der Umbau Riyads zu einer neuen, gigantischen Planstadt repräsentieren solche retrotopisch verfasste Nationen. Die Nation wird aber nicht in einem symbolischen Sammelsurium einer ideologischen Stadt wie im Faschismus oder Nationalsozialismus repräsentiert, sondern in der Gesamtheit der Stadt selbst. Die Planstadt ist der neue soziale Ort der Nation, die sich durch eine fast museal wirkende Zurschaustellung der Vergangenheit in solchen Orten inszeniert. Sie ist die Antithese zum platonischen Idealstaat.
Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. Hanser, München 2013
Zygmunt Bauman: Retrotopia. Suhrkamp, Berlin 2017
Aleida Assmann: Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen. Beck, München 2020