Der Präsident Südossetiens, Anatolyi Bibilov, hat ein Referendum angekündigt. Er, ein Putin-Bewunderer, möchte die von Georgien abtrünnige Kaukasus-Region an Russland anschliessen. Droht ein weiterer Krieg?
Zchinwali, die Mini-Hauptstadt der von Georgien abtrünnigen Region Südossetien im Kaukasus, liegt einige tausend Kilometer von Moskau und etwa ebenso weit von den Trümmern des Kriegs Russlands gegen die Ukraine entfernt. Die Süd-Osseten sind ethnisch den Russen fern – alle Osseten, auch deren Sprache, haben allenfalls eine Verwandtschaft mit den Iranern. Aber sie haben einen wahren Putin-Bewunderer als Präsidenten, Anatolyi Bibilov – und der verkündete nun, er werde demnächst ein Referendum über den Anschluss an Russland durchführen.
An dessen Ausgang besteht kein Zweifel: In Südossetien werden es bestenfalls einige wenige wagen, mit Nein zu votieren.
Der gewünschte Vorwand
Um die durch Putins Krieg ausgelöste Begeisterung zu unterstreichen, liess Präsident Bibilov (das berichtete das Portal Eurasianet), u. a. ein Autorennen und eine Volkstanz-Veranstaltung in seiner Hauptstadt durchführen. Man darf annehmen, dass diese Freudenfeiern strikt abgesondert von einzelnen, total 36, Begräbnissen stattfanden – 36 süd-ossetische Soldaten sollen nämlich tot aus dem Krieg auf ukrainischem Territorium in die Heimat zurückgebracht worden sein.
Zchinvali hat rund 30’000 Einwohner, ganz Südossetien etwa 50’000 und eine Fläche von 3’900 Quadratkilometern und ist damit etwa gleich gross wie, zusammen, die Kantone Ticino und Uri. In den 1990er Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, erklärten die Süd-Osseten ihre Trennung von Georgien, im Jahr 2008 kam es zum Krieg.
Die Schuld dafür wird, medial, im allgemeinen Russland respektive Putin zugeschrieben – aber in diesem konkreten Fall lagen die Dinge komplizierter. Der damalige georgische Präsident, Michail Saakashwili, wollte den Konflikt um die Separatisten-Region Südossetien mit einem gewaltsamen Überraschungsschlag lösen – und liess Zchinvali bombardieren. Warum? Er vertraute offenkundig darauf, dass die Nato, dass insbesondere Amerika, ihn offen unterstützen würden. Man konnte im Nachhinein allerdings feststellen, dass er Freundschafts-Bekundungen von Seiten des US-Präsidenten George W. Bush (der Georgien mehrfach als Musterdemokratie pries) etwas allzu ernst genommen hatte. Und er rechnete nicht damit, dass russische Truppen, bereits im benachbarten Nord-Ossetien (zu Russland gehörend) stationiert, nur auf eine Gelegenheit respektive einen Vorwand warteten, in den Süden und gegen Georgien zu marschieren. Das taten sie dann auch, und zwar blitzschnell. Nach wenigen Tagen standen russische Panzer fast schon in den nördlichen Vorstädten von Tiflis.
Äussere Ruhe
Nach 2008 schien der Konflikt um Südossetien eingefroren. Mehrheitlich schien sich auch in Tiflis die Meinung durchzusetzen, es lohne sich nicht, eine Kraftprobe um das zwischen Flachland und Gebirge gelegene, strategisch wenig bedeutende Gebiet zu wagen. Aber auch schon vorher herrschte in Georgien eine relativ pazifistische Stimmung – Präsident Saakashwili sagte mir im März 2008 noch persönlich bei einem Interview in Tiflis, er würde «niemals» das Problem mit Gewalt lösen. Einen entsprechenden Titel setzte sogar die NZZ über einen Artikel mit meinem Gespräch mit dem Präsidenten. Fünf Monate später, beim Kriegsausbruch im August, aber sah alles anders aus – Saakashwili blieb zwar noch weitere fünf Jahre Präsident Georgiens, aber die Zweifel an seiner Verlässlichkeit nahmen ständig weiter zu. In Ungnade beim politischen Establishment fiel er zwar nicht direkt wegen seiner problematischen Haltung zu Südossetien, sondern wegen Verdächtigungen auf Amtsmissbrauch.
Wer durch Georgien reist, spürt vom Südossetien-Konflikt höchstens indirekt etwas auf der Fahrt, beispielsweise, von Tiflis nach Gori, der Geburtsstadt Stalins. Irgendwo auf der Strecke wird etwas von den Folgen des Kriegs von 2008 sichtbar: Links Häuser für georgische Familien, die aus Südossetien flüchten mussten (es handelt sich um ca 30’000 Menschen), rechts der Grenzzaun zum selbst ernannten (respektive nur von Russland und einigen wenigen Verbündeten) anerkannten Staat. Zwischenfälle gab es in den letzten Jahren selten. Aber wird das so bleiben, wenn oder nachdem das von Präsident Bibilov angekündigte Referendum stattgefunden hat?
Schwierige Nachbarn
Die Spannungen werden steigen, auch wenn die jetzige Regierung Georgiens gewiss nicht daran denkt, um Südossetien einen Waffengang zu riskieren. Sie hält sich ja auch jetzt schon zurück in Bezug auf Stellungnahmen zum Ukraine-Krieg, und dies, obgleich die Grundstimmung in der Bevölkerung (seit vielen Jahren) so hart Kreml-kritisch ist, dass Besucher des Landes bisweilen den Eindruck erhalten, die Georgierinnen und Georgier seien grundsätzlich «Russen-Feinde».
So ist es in Wirklichkeit nicht – das Land ist zerrissen zwischen spontanen Emotionen und Wirklichkeits-Sinn. Und letzterer besagt: Als kleines Land muss sich Georgien auch mit einem höchst problematischen Nachbarn arrangieren. Wohin sollte man, um nur ein Alltagsbeispiel zu nennen, seinen Wein exportieren, wenn nicht nach Russland? (Gut, andere Länder sind in diesem Markt in den letzten Jahren etwas wichtiger geworden, aber der russische Markt ist weiterhin bedeutend und wird das auch bleiben, trotz des Kriegs.) Und Georgien kann sich auch nicht dem Waren-Transit-Verkehr aus Armenien in Richtung Russland verweigern, sonst gäbe es weitere Regionalprobleme.
Kommt hinzu, dass Georgien im Zwiespalt ist, wann immer zeitgeschichtliche Themen auftauchen: Man tut gerne so, als hätte das Land nie auch nur das Geringste mit der alten Sowjetunion zu tun gehabt, weiss aber anderseits, dass Stalin, Beria und noch eine ganze Anzahl weiterer Gewaltpolitiker der UdSSR aus Georgien stammten. Stalin, das wird dann auch oft gerne betont, sei ja «eigentlich» ein halber Süd-Ossete gewesen. Fragen, Diskussionen über die immer noch in die Gegenwart reichende Vergangenheit führen meistens in eine sehr breite Grauzone.
Wer übrigens darüber mehr erfahren möchte, sollte das Buch der Georgierin Nino Haaratischwili, «Das achte Leben», lesen. Es führt, auf seinen 1’200 Seiten, auf eindrückliche Weise in diese Grauzone, die vielleicht hilft, das Wesen Georgiens in Ansätzen zu verstehen.