Immer wieder fordert das angeblich Übernatürliche die wissenschaftliche Schulweisheit heraus. Beruht eine Koinzidenz auf einer Gesetzmässigkeit oder auf Zufall? Dieses simple Entweder-oder reicht in der Quantenphysik nicht mehr aus.
Über den Physiker Wolfgang Pauli kursiert die Legende des «Pauli-Effekts». In seiner Anwesenheit misslangen Experimente, gingen Geräte zu Bruch. Pauli soll der Zutritt zum Institut des Physikers Otto Stern verwehrt worden sein, aus Furcht vor solchen Kalamitäten. Man munkelt, Pauli selbst habe an den Pauli-Effekt geglaubt.
Verdächtige Koinzidenzen
Wir alle erleben laufend seltsame Koinzidenzen. Und wir schwanken zwischen zwei fundamentalen Einstellungen: Zufall oder nicht Zufall. Gewöhnlich sehen wir sie als Gegensätze: Wo Zufall ist, da ist kein Gesetz; wo Gesetz ist, da ist kein Zufall. Das erweist sich allerdings als zu grober Raster. Tatsächlich gibt es ein ganzes Spektrum, mit den Polen Zufall und Gesetzmässigkeit. Dazwischen liegt der Bereich, den Kognitionswissenschaftler als «verdächtige Koinzidenzen» bezeichnen: Koinzidenzen, die den Verdacht auf einen tieferen Zusammenhang erwecken, den Zusammenhang aber nicht genügend «evidenziell» stützen.
Die meisten Menschen leben in diesem Zwischenbereich. Oft finden sie darin wirkliche Zusammenhänge, oft aber auch eingebildete. Wirkliche Zusammenhänge gehen in die Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts ein, zum Beispiel die Entdeckung des Penicillins, des Elektrons in der Crookeschen Röhre oder der kosmischen Hintergrundstrahlung. Wenn ich bei mir die Koinzidenz feststelle, dass das Tragen weisser Socken stets von Magenbeschwerden begleitet ist, bin ich auf gutem Weg nicht in die Geschichtsbücher, sondern in die Psychiatrie.
Zufall und Wahrscheinlichkeit
Wir sind offensichtlich mit einem kulturell geprägten kognitiven Apparat ausgestattet, der uns geneigt macht, überall Muster, Zusammenhänge, bedeutsame Koinzidenzen wahrzunehmen. Das kann in die Höhen erhellendster Einsichten, aber auch in die Abgründe abstrusesten Wahns führen. Die Koinzidenzforschung ist ein spannendes Terrain, weil sie viel über unsere – natürlichen und anerzogenen – Voreingenommenheiten verrät.
Eine solche Voreingenommenheit liegt in der Überinterpretation von Zufallsfolgen. Hierzu ein kleines Experiment. Werfen Sie wiederholt zehnmal eine faire Münze. In einem Ausgang dieser Würfe erhalten Sie die Folge 1: KZZKKZKKZK (K: Kopf; Z: Zahl); in einem zweiten Fall die Folge 2: KKKKKKKKKK. Welch seltsame Koinzidenz, rufen Sie, ein perfekt geordnetes Muster – da steckt etwas dahinter!
Ein bisschen simple Wahrscheinlichkeitsrechnung hilft uns weiter. Die Wahrscheinlichkeit für Kopf und Zahl sind je ½, vorausgesetzt, die Würfe sind völlig unabhängig voneinander. Das heisst, selbst wenn wir neunmal Zahl geworfen haben, bleiben die Wahrscheinlichkeiten für Kopf bzw. Zahl unverändert ½. Die Folge 1 hat also die Wahrscheinlichkeit (½) hoch 10 = 0.0009, etwa 1 Promille; ebenso die Folge 2 (man multipliziert bei unabhängigen Ereignissen die Einzelwahrscheinlichkeiten). Sie müssen Ihren Versuch «zehnmal Münze werfen» nur mindestens tausendmal wiederholen (viel Spass), und Sie werden nahezu sicher einmal die Folge 2 erhalten – ohne Wunder. Der unwahrscheinliche Zufall braucht keine «tiefe» Erklärung, er beruht selbst auf einem Gesetz, jenem der grossen Zahl.
Synchronizität
Bei seltsamen Koinzidenzen tendieren wir dazu, irgendeine «drahtziehende» Instanz zu unterschieben: Wunder, Verschwörerzirkel, Aliens, Götterinterventionen, verborgene Ursachen, paranormale Einflüsse. Der Psychologe C. G. Jung schuf den Begriff der Synchronizität für Ereignisse, zwischen denen kein kausaler Zusammenhang besteht, wie etwa das zahlreiche Auftreten von Vögeln bei einem Todesfall.
Der österreichische Biologe Paul Kammerer stellte 1919 ein «Gesetz der Serie» auf, welches seltsame akausale Reihenbildungen in der Natur erklären sollte. Der britische Biologe Rupert Sheldrake erregte in den 1980er Jahren mit seinem «morphogenetischen Feld» Aufmerksamkeit, einem hypothetischen Medium, das zwischen räumlich entfernten Ereignissen vermittelt. Zum Beispiel zwischen Vögeln, die lernen, gleichzeitig an verschiedenen Orten den Verschluss von Milchflaschen aufzupicken. Derartige «exotische» Erklärungsversuche gibt es in allen Disziplinen, und einige erreichen einen anerkannten wissenschaftlichen Status.
Quantenphysikalischer «Spuk»
Die jüngste Quantenphysik liefert ein spektakuläres Beispiel. Quantenobjekte – zum Beispiel Elektronen oder Photonen – können sich in einem sogenannt verschränkten Zustand befinden, in dem sich eine seltsame Koinzidenz zeigt. Angenommen, es gibt Quantenmünzen, mit denen zwei Personen – Alice und Bob – das obige Spiel spielen. Wären diese Münzen ein verschränktes Paar, und würfe Alice die Folge 1, dann stellte Bob bei seinen Würfen augenblicklich auch diese Folge fest; dasselbe bei Folge 2.
Die beiden Münzen können beliebig weit voneinander entfernt sein, zwischen ihnen gibt es kein kausales Band, und doch sind die Zufallswürfe auf eine nicht-lokale Art miteinander verschränkt. Einstein konnte sich damit nicht anfreunden. Er nannte die Verschränkung einen «Spuk». Heute aber bestätigen immer mehr Experimente die seltsame Verknüpfung von Quantenobjekten – wenn man so will: die physikalische Synchronizität von Zufällen (eigentlich ein Widerspruch in sich).
Jenseits des physikalischen Erklärungshorizontes?
Wenn nun schon die Physik Zusammenhänge entdeckt, welche die herkömmliche, klassische Denkweise übersteigen, warum sollte es nicht auch Zusammenhänge geben, welche überhaupt ausserhalb des physikalischen Verständnishorizontes liegen? Mit dieser Frage suchen Obskurantisten immer wieder zu punkten. Aber sie machen die Rechnung häufig ohne den Zufall.
Angenommen, ein «Uri Geller» erhebt den Anspruch, den Münzwurf psychisch beeinflussen zu können. Ein Forscher entwickelt eine Theorie über diese Psychokinese. Er sieht in der oben erwähnten Folge 2 Evidenz für seine Theorie. Die «orthodoxe» Sicht sieht dagegen bloss Zufall. Was ist jetzt richtig: Psychokinese oder Zufall?
Bei zehn Zahlwürfen in Serie dürfte die orthodoxe Sicht obsiegen, denn sie braucht für ihre Erklärung keine «Exoten». Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom wissenschaftlichen «Sparsamkeitsprinzip». Aber wenn ich zwanzig Mal die Münze werfe und jedes Mal passiert «Kopf», könnte dies den Verdacht auf einen nicht zufälligen Faktor – im simpelsten Fall auf einen Trick – durchaus bestärken. In Tom Stoppards Stück «Rosenkranz und Güldenstern» wirft einer der Protagonisten neunzig Mal eine Münze, die immer auf den Kopf fällt. Schaltet da irgendeine okkulte Eigenschaft, eine übernatürliche Intervention oder was auch immer den Zufall aus?
Und wenn Würfel Gott spielten?
So schnell verabschieden sich seriöse Wissenschaftler allerdings nicht von kausalen Erklärfaktoren. Aber von der seltsamen Koinzidenz zur soliden Evidenz führt ein kontinuierlicher Weg. Die Statistik hat Werkzeuge entwickelt – zum Beispiel die Methode von Bayes –, welche uns erlauben, die Plausibilität von Hypothesen angesichts von Koinzidenzen zu berechnen. Solche Abschätzungen sind nicht absolut, sondern beziehen sich auf den etablierten Wissensstand.
Gibt es also mehr zwischen Himmel und Erde, als uns die Schulweisheit erträumen lässt? Ja und nein. Ja, denn wissenschaftliches Wissen ist nie abgeschlossen und es kann nicht definitiv Phänomene ausschliessen, die der aktuelle Erkenntnisstand als übernatürlich taxiert. Nein, denn das wissenschaftliche Ethos hält uns dazu an, scheinbar Übernatürliches natürlich zu erklären, sprich: nach aktuellem Wissensstand, im Dispositiv der bewährtesten Theorien und Methoden.
Die Frage hingegen, ob in der Welt letztlich Zufall oder Gesetz regiere, ist wissenschaftlich unentscheidbar. Sie zielt auf einen metaphysischen Standpunkt, von dem aus gesehen wir in der Lage wären, alle Ereignisse eindeutig in zufällige und gesetzmässige zu unterteilen: den Gottesstandpunkt.
Wir kennen ihn von Einsteins berühmtem Wort her, Gott spiele nicht Würfel. Wie aber will Einstein das wissen? Seine Aussage ist keine wissenschaftliche Behauptung, sondern ein religiöses Bekenntnis. Fragen wir deshalb ketzerisch zurück: Und was, Herr Einstein, wenn Würfel Gott spielten?