Die Ernennung des leitenden Personals bei Amerikas grossen Zeitungen ist, flapsig formuliert, mit einer Papstwahl zu vergleichen. Medien-Journalisten erstellen Listen von Papabiles, analysieren deren Stärken und Schwächen und evaluieren akribisch deren Chancen, den begehrten Thron zu besteigen. So lief das jüngst erneut im Fall der «Washington Post».
Deren Chefredaktor Marty Baron, dem Hollywood im Film «Spotlight» ein Denkmal gesetzt hat, gab im Februar seinen Rücktritt bekannt und setzte damit umgehend Spekulationen über seine Nachfolge in Gang – Mutmassungen über die Neubesetzung eines Postens, den vor ihm einst Ben Bradlee innehatte, dessen Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein in den frühen 1970er-Jahren den Watergate-Skandal aufgedeckt und mitgeholfen hatten, Präsident Richard Nixon zu stürzen.
Ein logischer Schritt
Doch bei der «Washington Post» lief diesmal alles anders ab. Die neue Chefredaktorin Sally Buzbee hatte kaum jemand als Nachfolgerin Marty Barons auf der Liste. «Sally who?», lauteten denn erste erstaunte Reaktionen, als das Management des Blattes Anfang Woche ihre Ernennung bekannt gab. Buzbees Unbekanntheit ist relativ. Immerhin war die 55-Jährige Vizepräsidenten und Chefredaktorin der Nachrichtenagentur «Associated Press» (AP), eines globalen Medienunternehmens mit 250 Vertretungen in 99 Ländern und 2800 Angestellten. AP liefert ihren 15’000 Kunden jedes Jahr 730’000 Artikel, 70’000 Videos und rund eine Million Fotos. Die Agentur ist aber viel diskreter und weniger mitteilungsfreudig, was ihr Innenleben betrifft. Und auch bodenständiger nüchterner vom institutionellen Selbstverständnis her.
Der Wechsel an die Spitze der «Washington Post» mit ihrer rund 1’000 Personen zählenden Redaktion ist folglich nicht so gross, wie auf den ersten Blick vermutet werden könnte. Denn wie ihre grosse Konkurrentin, die «New York Times», will und muss die «Post» weltweit wachsen und mehr Digital-Abonnenten gewinnen. Während die Druckauflage der Zeitung unter der Woche nur noch 200’000 und am Sonntag 300’000 Exemplare beträgt, ist ihre tägliche digitale Reichweite von unter 500’000 auf drei Millionen gestiegen, ein respektabler Zuwachs, aber nach wie vor um einige Längen von der Digital-Auflage der «Times» entfernt, die weltweit 7,5 Millionen Abonnenten zählt.
Beste Voraussetzungen
Unter anderem plant die «Washington Post», regionale Redaktionen in London und Seoul zu eröffnen und nach der Etablierung neuer Büros in Sydney und Bogotá die Zahl ihrer Auslandkorrespondentenposten auf 26 zu erhöhen. Währenddessen beschäftigt die «Times» in rund 30 Auslandbüros mehr als 200 Mitarbeitende.
Mit digitalen Entwicklungen ist Sally Buzbee von ihrer Funktion bei der AP her bestens vertraut. Und solide journalistische Erfahrung hat sie sowie vorzuweisen, auch wenn sie ihre ganze Laufbahn bei der Nachrichtenagentur verbracht hat. Unter anderem war sie in Kairo während des jüngsten Krieges im Irak für die Nahost-Berichterstattung der Agentur zuständig und leitete von 2010 bis 2016 das AP-Büro in Washington DC. Dort berichtete sie sowohl über zwei Präsidentenwahlen als auch über das Weisse Haus, den Kongress und verschiedene Ministerien und Bundesinstanzen.
Eine einstimmige Wahl
«Wir haben eine Person gesucht, welcher der mutige Journalismus vertraut ist, wie ihn die Post pflegt, und die unsere Reichweite in den USA und im Ausland ausdehnen kann», teilte Fred Ryan, der Herausgeber und CEO des Blattes, seinen Untergebenen mit: «Wir haben eine wagemutige Führungsperson gesucht, die unsere dynamische Redaktion und unsere Auslandbüros managen kann … Wir haben sorgfältig nach einer Person Ausschau gehalten, die unsere Werte der Diversität und der Inklusion teilt und die sich verpflichtet, diese Werte sowohl in unsere Berichterstattung und in unsere Personalpolitik einfliessen zu lassen.»
Sie hätten, schrieb Ryan, eine «Journalistin von Weltklasse» gesucht, die besonders in den Bereichen des investigativen und des politischen Journalismus ihre Stärken habe und dank ihrer Glaubwürdigkeit und Gravitas eine effiziente Fürsprecherin ihres Metiers sein könne. Offenbar gelang es Sally Buzbee auch, Jeff Bezos, den Gründer von Amazon und milliardenschweren Besitzer der «Post» von den geforderten Führungsqualitäten zu überzeugen. Die neue Chefredaktorin, sagte der Verleger, sei «eine einstimmige Wahl» gewesen und sowohl er und als auch der Besitzer seien sich «völlig einig». Im Übrigen hat sich Jeff Bezos, anders als teils befürchtet, bisher nicht in die redaktionellen Belange seiner Zeitung eingemischt.
Mehr Diversität als Ziel
Sally Buzbee ist sich der Tragweite ihrer Ernennung bewusst und sagte, es sei «eine Ehre», die erste Chefredaktorin der «Washington Post» zu sein. «Ich bin mir in meiner Laufbahn und in meinem Leben stets der Tatsache bewusst gewesen, dass mir andere Frauen den Weg geebnet haben. Dafür bin ich unglaublich dankbar. Ich bin mir auch bewusst, dass wir in Sachen Diversität nie auf unseren Lorbeeren ausruhen dürfen. Es ist mein Eindruck, dass wir bisher nie genug getan haben – egal, wie weit fortgeschritten wir auch sind.» Immerhin besetzen auf der Redaktion der «Post» Frauen heute sechs von zehn Führungspositionen.
Auf jeden Fall wolle sie eine Redaktion, die einem «tiefschürfenden, auf Fakten basierenden Journalismus» verpflichtet sei und in der «eine breite, sehr breite Vielfalt von Stimmen gehört werden und Einfluss haben». Ihrem Vorgänger Marty Baron war mitunter vorgeworfen worden, nicht genug unternommen zu haben, um die Diversität der Redaktion zu gewährleisten, und Mitarbeitende in ihrer politischen Meinungsäusserungsfreiheit eingeschränkt zu haben, was etwa ihre Aktivitäten in sozialen Medien betraf.
Eine Working Mom
In der Branche ist Sally Buzbees Ernennung auf breite Zustimmung gestossen. Es gebe, schrieb Julie Pace, die heutige Chefin des AP-Büros in Washington DC, schlicht keine bessere Leiterin einer Redaktion und Mentorin als Sally: «Auch ist sie ein Vorbild für Mütter im Journalismus.» Buzbee hat zwei Töchter im Alter von 21 und 20 Jahren und ist Witwe. Ihr Mann, ein Diplomat und Nahost-Spezialist, ist 2016 gestorben. «Das ist der Moment, wenn Untergebene ihrem neuen Boss Tweets schicken, die ihr schmeicheln», twitterte Devlin Barrett, ein Reporter der «Post», der früher für die AP gearbeitet hatte, «aber ehrlich, auch wenn ich mir bewusst bin, dass mich das alt aussehen lässt? Sally ist … eine hervorragende Chefredaktorin».
Quellen: AP, The Washington Post, The New York Times, Poynter Institute, Columbia Journalism Review