Unter den Unterzeichnern sind auch fünf Nobelpreisträger. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass alles, was in der literarischen Welt Rang und Namen hat, sich dem Aufruf gegen die Massenüberwachung angeschlossen hat.
"Überwachung ist Diebstahl"
Das Eigentümliche daran ist aber, dass dieser Aufruf, so klar und scharf er formuliert ist, in Anbetracht des Ausmasses des Überwachungsskandals stumpf und dumpf wirkt. Gerade dadurch wird das ganze Übermass der bislang im Geheimen geübten Praxis deutlich. Im Grunde ist es mehr ein Aufschrei als ein Aufruf.
Die beiden formulieren: „Überwachung ist Diebstahl. Denn diese Daten sind kein öffentliches Eigentum: Sie gehören uns. Wenn sie benutzt werden, um unser Verhalten vorherzusagen, wird uns noch etwas anderes gestohlen: der freie Wille, der unabdingbar ist für die Freiheit in der Demokratie.“
„Kalkül der Angst“
Weltweit erschien der Aufruf in 30 Tageszeitungen, in Deutschland hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ in ihrer Ausgabe vom Dienstag, 10. Dezember 2013, den Aufruf, die Liste der Unterzeichner, einzelne Stellungnahmen und ein Interview mit den beiden Initiatoren veröffentlicht. Damit wurden fast zwei Seiten des aktuellen Feuilletons gefüllt. Es wirkt wie eine besonders üble Pointe, dass die letzte Spalte auf der zweiten Seite überschrieben ist: „Kalkül der Angst“. In diesem Beitrag geht es darum, dass China gerade dazu übergegangen ist, westlichen Korrespondenten, deren Medien in China in Misskredit geraten sind, für das kommende Jahr die Akkreditierung nicht mehr zu erteilen.
Was es bedeutet, aufgrund missliebiger Publikationen in ein Land nicht mehr einreisen zu dürfen, hat Ilija Trojanow kürzlich am eigenen Leib erfahren. Als er am 30. September von Brasilien aus in die USA zu einem Germanistenkongress, zu dem er eingeladen war, mit American Airlines fliegen wollte, konnte er nicht einchecken. Es gäbe da ein Problem mit seinem Pass, wurde ihm bedeutet. Worin das Problem genau besteht, wurde ihm natürlich nicht gesagt, aber er wusste es selbst. Denn zusammen mit Juli Zeh hatte er im Jahr 2009 im Hanser Verlag ein Buch unter dem Titel „Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte“ veröffentlicht.
Politische Rücksichtnahmen
Entsprechend vorsichtig gingen die beiden für ihren aktuellen Aufruf zu Werke. Sie benutzen nicht die offiziellen Kanäle von Schriftstellerverbänden oder auch Organisationen der UNO. Das Ganze funktionierte auf einer persönlichen Ebene im Schneeballsystem. Dabei musste auch darauf geachtet werden, alles zu vermeiden, was nach einseitiger Schuldzuweisung aussehen könnte. Denn damit hätte man viele potentielle Unterzeichner abgeschreckt.
In dem Gespräch mit der FAZ sagte Juli Zeh: „Es war klar: Die amerikanische Regierung darf nicht direkt genannt werden, die NSA auch nicht, es dürfen überhaupt keine Schuldigen genannt werden. In den Vereinigten Staaten gibt es Linksintellektuelle, die Überwachung sehr kritisch sehen, aber sagen: Zum jetzigen Zeitpunkt darf man Präsident Obama nicht kritisieren, ganz egal weswegen, sonst spielt man der Tea Party in die Hände.“
Die tiefe Glaubenskrise
Ganz so vorsichtig waren sie vorher in Deutschland nicht. In einem offenen Brief an die Kanzlerin Angela Merkel, in dem sie sie ganz persönlich aufgefordert haben, gegen die Überwachung einzuschreiten, hatten sie mit der Adressatin zugleich viele Unterstützer mobilisiert. Aber die Kanzlerin hat bis heute nicht geantwortet.
Zwar glauben die beiden, dass sie mit dem neuen Aufruf „von Einzelkämpfern zum Teil einer Bewegung geworden“ sind, trotzdem stellt Ilija Trojanow fest: „Dass so viele Bürger das Gefühl haben, diese Entwicklung sei nicht mehr aufzuhalten, zeugt von einer tiefen, tiefen Glaubenskrise im demokratischen Prozess.“ Entsprechend stellt der Schriftsteller T. C. Boyle in seiner Stellungnahme fest: „Während wir schliefen, haben die Maschinen die Welt übernommen, genau wie es die alten Science-Fiction-Filme voraussagten.“
Die Realität des Undenkbaren
Der spanische Autor Javíer Marías hat schon vor Jahren die Konsequenz gezogen, grundsätzlich keinen Computer zu benutzen, nur mit der Schreibmaschine zu schreiben und alle Recherchen ganz konventionell mithilfe gedruckter Medien durchzuführen. Das ist der Preis, den er für seine Privatsphäre zu zahlen bereit ist.
Und so ist dieser Aufruf im Grunde genommen ein Dokument unserer tief verwundeten Zeit und unserer Hilflosigkeit. Wir wissen, dass unter dem Siegel der Demokratie Dinge geschehen, die noch vor kurzem niemand, der nicht zu den geheimen eingeweihten Kreisen gehört, für denkbar gehalten hätte. Aber sie werden sich kaum abstellen lassen. Zwar formuliert Ilija Trojanow: „Alle Probleme, die wir ansprechen, sind viel einfacher zu lösen als beim Umweltschutz.“ Damit markiert er ein Paradox, das wir in der ganzen Bedeutung erst noch erfassen müssen:
Fehlende Adressaten
Die Umweltprobleme sind derartig komplex und erforderten ein Zusammenwirken derartig zahlreicher und gegensätzlicher Akteure, dass Ihre Lösung jenseits aller Wahrscheinlichkeit liegt. Was das Belauschen, Ausspähen und Sammeln von Daten angeht, so ist der Kreis der Akteure zwar gross, aber wesentlich kleiner als der der Verursacher der Umweltschäden.
Im Grunde ist der Konsens, dass in der Demokratie die Privatssphäre und damit die Freiheit der Bürger zu schützen sei, nicht offiziell infrage gestellt worden. Dieser Konsens ist viel klarer als der in Bezug auf die Umwelt, bei der immer noch gefragt wird, was genau zu ihr gehört und geschützt werden muss. Aber der demokratische Konsens wurde heimlich, still und leise von „Diensten“ im Hintergrund aufgekündigt. Deren Akteure scheinen so mächtig zu sein, dass gewählte Politiker gegen sie gar nicht mehr ankommen. Insofern fehlen „Aufrufen“ wie dem von Juli Zeh und Ilija Trojanow die Adressaten. Darin liegt der unermesslicher Schaden an unserer politischen Umwelt.