Taktisches Abstimmen und Wählen ist üblich und oft durchaus begründet. Man gibt zum Beispiel einem aussichtslosen Kandidaten die Stimme – obwohl man ihn vielleicht gar nicht gewählt sehen möchte –, bloss um die ungeliebte Favoritin des Wahlgangs eventuell verhindern zu können. Oder, ein konkreter Fall, man stimmte für das Bedingungslose Grundeinkommen, obschon man die Vorlage für unrealistisch hielt; aber man wollte mit einem Achtungsergebnis des BGE bewirken, dass Bestrebungen in dieser Richtung weiter vorangetrieben würden.
Risiko des Prinzips „Schuss vor den Bug“
Aus Diskussionen um die No-Billag-Initiative ist zu schliessen, dass nicht wenige mit einem Ja liebäugeln, weil sie an einem allzu behäbig gewordenen System mal kräftig rütteln möchten. Die SRG ist ihnen zu mächtig, das Fernsehprogramm zu seicht, die „Staatssender“ zu links, die Gebühr zu teuer, das Angebot zu unzeitgemäss. Diese Bürgerinnen und Bürger wollen den Stimmzettel zum Denkzettel machen. Da passt es ihnen gut in den Kram, wenn ihnen von Initianten und Supportern versichert wird, No Billag sei nicht gegen die SRG gerichtet, sondern wolle diese lediglich aus dem Korsett unsinniger Regelungen „befreien“.
Die Denkzettel-Taktik ist bei No Billag aus zwei Gründen verfehlt. Erstens geht es bei der Vorlage weder einzig noch hauptsächlich um die SRG – dazu gleich mehr. Zweitens ist diese Initiative keineswegs derart chancenlos, dass man ihr ohne Risiko ein paar Ja-Stimmen geben könnte. Taktisches Abstimmen wäre in diesem Fall gefährlich und verantwortungslos.
Wer mittels dieser Vorlage einen „Schuss vor den Bug“ der SRG abfeuern möchte, muss sich klar sein: das Risiko, das Schiff zu versenken, ist sehr hoch. Zudem ist es ein sinnloses Spiel mit der Gefahr. Denn die Motive für ein taktisches Ja im Sinne eines Denkzettels betreffen allesamt Punkte, um die es bei No Billag gar nicht geht.
Diskussionen, um die es am 4. März NICHT geht
1. Es geht NICHT um die Unternehmenspolitik der SRG. Entschieden wird mit der Abstimmung nicht über die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Expansion, sondern über die künftige Existenz der SRG.
2. Es geht NICHT um Meinungen über Inhalte, Programme, Sendungen oder Köpfe der SRG. Die Billag-Abstimmung entscheidet über das weitere Bestehen des gesetzlich zu einer Vielzahl von Leistungen verpflichteten Medienhauses. Bei einem Ja fallen jeglicher Leistungsauftrag und jegliche gesetzliche Aufsicht ersatzlos weg. Nicht nur die SRG ist dann zerstört; es kann auch nichts an ihre Stelle treten, das ihre Funktionen übernehmen würde.
3. Es geht NICHT allein um „das Fernsehen“ – wie es in Diskussionen und Propaganda immer wieder heisst – und auch nicht allein um die SRG. Entschieden wird über so gut wie alle einheimischen Radio- und TV-Veranstalter der Schweiz in den vier Sprachregionen. Wird No Billag angenommen, so wird es in der Schweiz kein rätoromanisches und kein einheimisch-italienisches Radio- und TV-Angebot mehr geben. In der Romandie und selbst in der Deutschschweiz gäbe es nur noch massiv reduzierte Angebote. Um so stärker wäre in den drei Hauptregionen die Präsenz ausländischer Sender, die denn auch den Löwenanteil der Rundfunkwerbung abschöpfen würden.
4. Es geht NICHT darum, durch Abschaffung von „Zwangsgebühren“ den Individuen die Freiheit zu geben, welche Radio- und TV-Sendungen sie nutzen und bezahlen wollen. Mit dem Wegfall der Gebührenfinanzierung bleiben nur Angebote, die sich am freien Markt finanzieren lassen – und dazu gehören die auch von No-Billag-Befürwortern immer wieder als Wichtigste genannten (Information, Dokumentarisches, Kultur, Wissenschaft, Schweizer Sport, Fiktionales und Unterhaltung mit Bezug zum Schweizer Alltag) eben gerade nicht. Die Wahlfreiheit würde demnach nicht vergrössert, sondern empfindlich eingeschränkt. Zu behaupten, der Markt liefere alles, was in relevantem Mass nachgefragt wird, geht völlig an der Realität vorbei.
5. Es geht NICHT um Abkehr von überholten Techniken und Aufbruch in eine digitale Informations- und Unterhaltungswelt. Der technische Wandel findet sowieso statt; die bestehende Radio- und TV-Ordnung steht ihm nicht im Weg. Je vielfältiger und unübersichtlicher aber die Kommunikationskanäle und Plattformen werden, desto wichtiger sind Inhalte, die unabhängig und nach überprüfbaren journalistischen Standards produziert und von den Mediennutzern als solche erkannt werden.
6. Es geht NICHT darum, mit No Billag einen kräftigen Anstoss zur Veränderung zu geben und nachher dem Parlament eine für die Schweiz verträgliche Konkretisierung zu überlassen. Die Initiative ist radikal, glasklar und mit extrem engen Fristen formuliert. Nach ihrer Annahme bliebe nichts anderes, als sie sofort und konsequent umzusetzen. Vergleiche mit der Masseneinwanderungs- oder der Zweitwohnungsinitiative, die anschliessend in den parlamentarischen Prozeduren verwässert wurden, sind verfehlt.
Gefährliche Verwirrung
Der seit bald einem halben Jahr geführte heftige Abstimmungskampf ist selbst für die debattengewohnte Schweiz allmählich zur Tortur geworden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Medien sich mit dem Diskussionsmarathon teilweise schwertun. Die bei Abstimmungen stets besonders in der Pflicht stehenden SRG-Programme sehen sich bei No Billag in der ungemütlichen Lage, dem Verdacht der Befangenheit ausgesetzt zu sein.
Eine Untersuchung des Zürcher Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög) zeigte zwar, dass Befürworter in SRG-Programmen vergleichsweise gut zu Wort kommen. Das hinderte jedoch „20 Minuten“ nicht, den Bericht über die Fög-Untersuchung unter die Headline zu stellen „SRF berichtet negativ über No Billag“.
Die Verleger und Presseredaktionen – der Ausrutscher von „20 Minuten“ ist vielleicht ein Indiz dafür – taten und tun sich vielfach einigermassen schwer mit No Billag. Einige Zeitungen fanden nur mit Mühe zu einer ablehnenden Stellungnahme. Der im samstäglichen Leitartikel von „Staatsmedien“ faselnde NZZ-Chef ist in unguter Erinnerung geblieben. Die Tamedia wiederum hat sich mit dem Kauf des Werbevermarkters Goldbach in eine Situation gebracht, die ihren Kapitän zufrieden zurücklehnen lässt; er profitiert so oder so. Der Klärung medienpolitischer Streitfragen um No Billag haben solche Manöver nicht gedient.
Die lange Dauer des Abstimmungskampfs, die missionarische Penetranz mancher Akteure und die Verzettelung der Diskussion auf zahlreichen Nebenschauplätzen haben zu einem eher unüblichen Grad an Konfusion geführt. Kräftig dazu beigetragen hat der Gewerbeverband mit seiner Kampagne, die unter der Parole läuft „Ja SRG: Service public ohne Billag-Abzocke“. Zwei verschiedene als „Plan B“ figurierende Beschwichtigungsversuche von arg schönfärberischer Machart sind im Umlauf. – Man muss sich in der schwierigen Medien-Materie schon ziemlich auskennen, um da nicht verwirrt zu werden.
Konzentration auf die Entscheidungsfrage
Notwendig ist in der jetzigen Schlussphase des Abstimmungskampfs eine entschlossene Konzentration auf die am 4. März zu treffende Entscheidung. Es geht nicht um irgendwelche Denkzettel, nicht um Impulse für fällige Veränderungen, sondern um Ja oder Nein zur Existenz eines unter gesetzlichen Vorgaben und Kontrollen operierenden, aus Gebühren mitfinanzierten Rundfunks.
Bei einem Ja müsste die SRG im Rekordtempo aufgelöst werden, und die Grosszahl der lokal-regionalen Privatsender (nur ganz wenige von ihnen existieren ohne substantielle Gebührenanteile) müsste ebenfalls dichtmachen. Nur wer über sehr grosse Mittel verfügt und zu hohen wirtschaftlichen Risiken bereit ist, würde versuchen, an die Stelle einzelner Teile der SRG-Konkursmasse zu treten. Gestärkt würden einzig die ausländischen Privatsender, die schon heute mit Werbefenstern auf dem Schweizer Markt agieren.
Am 4. März ist zu entscheiden, ob dies die Zukunft der Radio- und TV-Szene Schweiz sein solle.