„Al pan, pan y al vino, vino“, heisst eine Redensart im Spanischen. Was soviel bedeutet wie, dass man das Brot Brot nennen soll und den Wein Wein. Also nicht um den heissen Brei herumreden, sondern die Dinge beim Namen nennen.
"Flugverbotszone"
Wörter sind definiert als akustische Zeichen oder ihre schriftliche Darstellung, die für Dinge oder Sachverhalte stehen. Das klingt einfach, doch die Sache wird kompliziert, wenn man die Sprache als Instrument ihrer Benutzer ansieht und Kategorien wie Wahrheit oder Unwahrheit in Betracht zieht. Denn da gibt es gewisse Herrschaften, die Wörter benutzen oder neu zusammensetzen, um nicht den Sachverhalt zu nennen, sondern ihn zu verheimlichen. Das Wort „Flugverbotszone“ ist eine solche Wortschöpfung. Es klingt harmlos: ein wenig wie Fussgängerzone oder Verkehrsberuhigung der Innnenstadt.
Flugverbotszone heisst aber Krieg. Das Verhängen einer Flugverbotszone ist in der Praxis eine Kriegserklärung. Denn die Durchsetzung des Flugverbotes impliziert militärische Operationen von einer Tragweite und Komplexität, die von einem Kriegseinsatz nicht mehr zu unterscheiden sind.
Das wissen natürlich NATO-Generäle ebenso gut wie Regierungen und informierte Parlamentarier. In einem Experten-Gutachten zuhanden des US-Kongresses hiess es im März 2011 zum Thema Flugverbotszone in Libyen:
„Die Luftabwehr ist in verschiedenen Ländern verschieden weit entwickelt, von einfachen Luftabwehrkanonen bis hin zu hochwirksamen Boden-Luft-Raketen-Systemen. Bei Verhängen einer Flugverbotszone ist also zu bedenken, wie diese Systeme zerstört werden können.“ (Congressional Research service, Report for Congress 18. März 2011)
Mehr als ein Verkehrsschild
Niemand soll sich „der Illusion hingeben, es gehe nur um das Aufstellen eine Verkehrsschildes,“ sagte der deutsche Aussenminister Guido Westerwelle vor Beginn der Angriffe auf Libyen. Das Durchsetzen einer Flugverbotszone sei eine „militärische Intervention“.
Die UNO-Charta gestattet im Artikel VII den Einsatz von Truppen zur Friedenssicherung. Eine spezielle Ausweitung erfuhr dieser Artikel im vergangenen Jahrzehnt durch das Konzept der „Responsibility to Protect“ (RtoP) Das bedeutet: Im Falle von unerträglich schweren Menschenrechtsverletzungen, drohendem Völkermord und anderen Brüchen des humanitären Völkerrechts, kann der UN-Sicherheitsrat ein militärisches Eingreifen beschliessen. Eine Flugverbotszone kann eine Form des Eingreifens sein.
Anfang eines Luftkrieges
Im Fall Libyen autorisierte der UN-Sicherheitsrat am 17. März 2011 einen Militäreinsatz zur Durchsetzung einer Flugverbotszone. Am 19. März begannen die Angriffe französischer Mirage und Rafale-Kampfjets auf Libyen. Von fünf Kriegsschiffen der US-Navy wurden ausserdem britische Tomahawk-Marschflugkörper auf Ziele an der Küste abgefeuert. In den ersten 48 Stunden der Angriffe wurde die Luftabwehr Gaddafis bereits weitgehend vernichtet.
US-Vizeadmiral Bill Gortney gab am 21. März bekannt, die Stellungen der wichtigsten libyschen Flugabwehrraketen seien zerstört worden.
Aber das war nur der Anfang eines Luftkrieges. In den folgenden Wochen und Monaten wurde alles unter Feuer genommen, was eine militärische Funktion hatte oder haben konnte: Artilleriestellungen, Flugpisten, Hangare, Fernseh-Satelliten, Kasernen, Kommandobunker, Radaranlagen, Marinestützpunkte.
Britische Tornados wurden bestückt mit tausend Kilo schweren Enhanced-Paveway-Bomben zum Durchbrechen von Bunkern.
Von der No-Fly-Zone zur No-Drive-Zone
Lange vor Beginn der Angriffe waren Special Forces und Einheiten des britischen, französischen und amerikanischen Geheimdienstes vor Ort, um die Ziele auszukundschaften und das Feuer zu lenken. Auch Waffenfabriken oder Unternehmen, die Produkte für die libysche Armee herstellten, wurden zu Angriffszielen.
Aus der No-Fly-Zone wurde bald einmal eine No-Drive-Zone, ohne dass die NATO-Generäle sich grosse Mühe machten, dies zu begründen. Militärfahrzeuge oder Fusstruppen wurden aus der Luft angegriffen , es wurde auf alles geschossen, was sich bewegte. Was als Teil des Gaddafi-Militärapparates angesehen wurde, war zum Abschuss freigegeben.
Der französische Aussenminister Alain Juppé erklärte bereits am 24. März im Radiosender RTL, Luftwaffe und Flugabwehr Gaddafis seien „neutralisiert“, man werde aber weiter militärische Objekte angreifen. Ziel sei der Schutz der libyschen Zivilbevölkerung sowie die Unterstützung der libyschen Oppositionskräfte, welche gegen das Gaddafi-Regime und für Demokratie und Freiheit kämpften. Aus der Formel „Durchsetzung einer Flugverbotszone“ war ein Angriffskrieg geworden. Die NATO kämpfte ohne jeden Zweifel auf Seiten der Aufständischen, um die Regierung eines souveränen Staates zu stürzen.
Keine Zahlen über Opfer der Luftangriffe
Bereits bei den ersten Luftangriffen der Alliierten gab es zahlreiche Tote unter der Zivilbevölkerung. Selbst der Vatikan hielt nicht zurück mit seiner Kritik. Giovanni Innocenzo Martinelli, der Apostolische Vikar von Tripolis, sagte der katholischen Nachrichtenagentur Fides: "Ich habe mehrere Augenzeugenberichte von vertrauenswürdigen Personen." Im Stadtviertel Buslim sei ein ziviles Gebäude nach der Bombardierung eingestürzt. 40 Menschen seien dabei ums Leben gekommen.
Mitte Juli gab der Generalstaatsanwalt des Gaddafi-Regimes bekannt, bisher seien bei NATO-Luftangriffen über tausendeinhundert Zivilisten getötet worden, es gebe mehr als viertausendfünfhundert Verletzte. Wegen dieser Opfer des Angriffskrieges müsse sich der dänische NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen dereinst vor der libyschen Justiz rechtfertigen.
Keine Bilder im TV, keine Wahrnehmung
Rasmussen dagegen wurde bei seinen Auftritten vor der Presse nicht müde zu predigen, man führe überhaupt keinen Krieg in Libyen, es gehe lediglich um eine Flugverbotszone. Nicht selten wurden mehr als hundert Luftangriffe pro Tag geflogen. In den ersten Stunden und Tagen der Kampfhandlungen übernahmen einige europäische Fernsehsender noch Bilder von zertrümmerten Häusern und Verletzten, die das libysche Fernsehen zeigte.
Doch diese Bilder wurden meist als wenig vertrauenswürdig kommentiert oder eher nonchalant als Propaganda-Montagen des Regimes abgetan. Kurze Zeit später waren keinerlei Bilder von NATO-Luftangriffen mehr zu sehen. Es wurden nur noch Opfer von Angriffen der Gaddafi-Truppen gezeigt. Die Journalisten berichteten auch fast nur noch aus der Perspektive der Aufständischen. Die Zerstörungen, die die NATO-Raketen und Kampfflugzeuge anrichteten, waren auf den grossen europäischen und amerikanischen Fernsehsendern nicht zu sehen, also gab es sie in der öffentlichen Wahrnehmung auch nicht.
Von März bis September bilanzierte das NATO-Kommando in Neapel bereits über zwanzigtausend geflogene Angriffe. Bei allen Medienauftritten der NATO-Sprecher hiess es, man achte streng darauf, zivile Opfer zu vermeiden. Genaue Zahlen liegen meines Wissens bis heute nicht vor. Amnesty International und Human Rights Watch kamen nach Ende des Libyen-Krieges bei der Untersuchung von Einzelfällen zu dem Ergebnis, dass oft Häuser von Zivilbevölkerung bombardiert worden waren, die keinerlei militärische Bedeutung hatten.
Das Wort Krieg ist ein Tabu
In den europäischen Nachkriegsgesellschaften, denen das Grauen und die Entbehrungen der beiden Weltkriege fast schon in die Gene eingeschrieben ist, ruft das Wort „Krieg“ alergische Reaktionen hervor. Daher ist es unter allen Umständen zu vermeiden. Flugverbotszone klingt harmlos, es klingt ein wenig wie Tempolimit. In den offiziellen Erklärungen wird Flugverbotszone im Zusammenhang mit der „Humanitären Mission“ genannt. Es gelte nur, die Zivilbevölkerung zu schützen, mehr nicht.
Aus der gleichen Trickkiste sind andere falsche Etiketten. In Afghanistan geht es nicht um einen Einsatz deutscher Truppen in einem Krieg, sondern um „Ausbildungshilfe für die Afghanischen Sicherheitskräfte“. Niemals wird, wenn es um Afghanistan geht, das Wort Kriegseinsatz in den offiziellen Verlautbarungen in Berlin zu hören sein. Es ist ein absolutes Tabu.
Und die US-Special Forces stehen auf der Gehaltliste meist als „military advisers“, sie haben stets nur „Beraterfunktion“, ob heute in Kolumbien und Peru oder in den achziger Jahren in Honduras und El Salvador.
Zeitdruck und praktische Textbausteine
Natürlich erwartet man von einem News-Journalisten oder einer News-Journalistin keine sprachphilosophischen Abhandlungen, sondern dass sie kurz und bündig informieren. Aber genau da ist die Falle der Falschinformation. Denn der Zeitdruck und die Notwendigkeit, die Dinge auf eine paar Sätze zusammenzufassen, führt dazu, dass Ausdrücke wie Flugverbotszone, arabischer Frühlinge, Gruppe der Freunde Syriens oder das romantisierende Wort „Rebellen“ als praktische und leicht zu handhabende Textbausteine eingesetzt werden. Dass es sich um Falsch-Deklarationen handelt, die eine suspekte Ware befördern, - wer hat schon Zeit und Geduld, dies zu erörtern? Lesen oder hören wir das Wort „Flugverbotszone“, schon sind wir informiert, schon stimmt alles.
Nein, eben nicht. Wenn alles so schnell stimmt, ist alles falsch. Denn die Wörter schwimmen in einer assoziativen Nährflüssigkeit, die wir oft nicht bewusst wahrnehmen. Arabischer Frühling dockt semantisch irgendwo an beim „Prager Frühling“, und dies wiederum löst eine assoziative Kettenreaktion aus, die schliesslich beim Aufstand der „Guten gegen die Bösen“ und beim Sieg des Westens über den Kommunismus ankommt. Man fühlte sich gut beim beim poetischen Klang des Ausdrucks „Arabischer Frühling“, ein wenig zu gut. Dass dieser Frühling einen bitterer Winter hervorbringen wird, zeichnet sich nicht nur in Ägypten, Libyen und Syrien ab.
Selbst hehre Parolen wie Demokratie und Freiheit sind zur leeren Hülle verkommen. Sie funktionieren wie ein Omnibus, der viele falsche Passagiere transportieren kann oder bisweilen überhaupt nichts ausser warmer Luft.
Die verschwindende Realität
Man glaubte einst, dass die laufenden Filmbilder mehr Realität zeigen würden als die Fotografie. Mehr noch: Man gab sich der Illusion hin, dass die „Live-Bilder“ des Fernsehens ein Maximum an Authentizität und Wahrheit in jede Wohnstube brächten. Mir scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Die visuelle Überflutung bewirkt ein Nachlassen der Kontrollfähigkeit und Aufmerksamkeit des Zuschauers. Wer kann schon die flüchtigen Bilder behalten?
Und die Schnelligkeit, mit der die Bilder produziert und um die Welt gejagd werden, öffnet Tür und Tor für brutale Manipulation. Welcher Journalist konnte – zum Beispiel im Irakkrieg oder in Libyen – fotografieren, wo und was er wollte? Die Bombardierungen der NATO-Verbände in Libyen waren unsichtbar. Sie existierten nicht im Fernsehen, also gab es sie nicht. Eine hocheffiziente Zensur-Leistung der Staaten, die eine Flugverbotszone durchsetzten. Man sah nur startende und landende Kampf-Jets auf Fluzeugträgern im sonnigen Mittelmeer. Hightech-Bilder als Symbol für einen klinisch reinen Krieg.
Am Ende ergibt sich die paradoxe Situation, dass immer mehr Menschen politische Entscheidungen über Krieg oder Frieden treffen sollen – und sei es nur an der Wahlurne zum Beispiel in Israel oder in den USA – und dabei von fragwürdigen Bildern abhängen, die sie für eine Abbildung der Wahrheit halten.
Mag sein, dass es letztlich keine Objektivität geben kann, auch im Journalismus nicht. Aber wenn schon die Bilder trügerisch sein können, dann sollten wir wenigstens versuchen, mit unserer Sprache sorgfältig umzugehen und die Dinge beim Namen zu nennen. Llamarle al pan pan y al vino vino.