In Deutschland will die Gewerkschaft der Lokführer GDL die Viertagewoche durchsetzen. In der vergangenen Woche wurde schon gestreikt und es drohen weitere Streiks. Auch in anderen Branchen wie der Stahlindustrie wird von der Viertagewoche geredet. Und Teilzeitarbeit ist heute mehr die Regel als die Ausnahme.
Die Forderungen nach der Reduzierung von Arbeitszeit werden auch damit begründet, dass Leben und Arbeit im Gleichgewicht sein sollten, also dass es gelte, die richtige «Work-Life-Balance» zu finden. Das klingt zunächst einleuchtend, und die vielen Teilzeitarbeitsverträge erwecken den Eindruck, die Gesellschaft justiere ihr Verhältnis zur Berufsarbeit neu. Schon seit Längerem gibt es das Schlagwort von der Freizeitgesellschaft.
Arbeit und Freizeit bilden nach herkömmlichen Verständnis Gegensätze, die auszutarieren sind. Und es gibt nicht wenige, die nichts dagegen haben, wenn sich die Waage mehr in Richtung Freizeit neigt. Denn, so die herkömmliche Vorstellung, nur in der Freizeit ist der Mensch ganz bei sich, befreit vom Zwang der Arbeit.
Für eine grosse Zahl von Berufen trifft diese Vorstellung bis heute zu. Denn es gibt nach wie vor viele Arbeiten, die die Menschen über die Massen körperlich und psychisch belasten: von der Arbeit auf Baustellen, vor Hochöfen bis zu Pflegeberufen. Es leuchtet ein, dass diese Berufe den denkbar schärfsten Gegensatz zur Entspannung in der Freizeit darstellen. Arbeit und Freizeit sind hier zwei vollkommen verschiedene Welten.
Überforderung und Erschöpfung
Gerade die moderneren Berufe aber lassen insbesondere im Zeichen der Digitalisierung die scharfe Trennung zwischen Arbeit und Freizeit nicht mehr zu. Seit Corona hat sich die Arbeit im Homeoffice auf breiter Front durchgesetzt, und das Smartphone garantiert die ständige Erreichbarkeit auch in der Freizeit. Soziologen wie Hartmut Rosa weisen darauf hin, dass aufgrund dieser Durchmischung der Freizeit mit Anforderungen der Arbeit zusätzliche Belastungen entstehen. Überforderung und Erschöpfung seien die Folge.
Dass hier neu justiert werden muss, leuchtet ein. Dazu können einige kleine, aber durchaus wirksame Korrekturen gehören. So wird vielfach beklagt, dass besonders eifrige Chefs ihre Untergebenen auch in der Freizeit mit ihren Geistesblitzen via E-Mail oder Smartphone heimsuchen. Das ist aber keine Frage der Work-Life-Balance, sondern ein Problem mangelnden Respekts gegenüber der Privatsphäre der Mitarbeiter und wirft zudem die Frage nach der Firmenkultur auf.
Umgekehrt verführt der Begriff der Work-Life-Balance zu einer Fehleinschätzung der Arbeit in ihrer Bedeutung für das Leben. Arbeit ist weit mehr als ein notwendiges Übel. Sie ist Lebenselexier. Das zeigen zahlreiche Untersuchungen zu den psychischen und somatischen Langzeitfolgen von Arbeitslosigkeit. Sie entsprechen denen von Schicksalsschlägen wie der Trennung vom Partner oder schwerer Krankheit. Deswegen ist es fatal, wenn Arbeit grundsätzlich als das Gegengewicht zum Leben angesehen wird. Wer so denkt, wird seinen Beruf nie mit ganzer Hingabe lernen. Gestandene Mediziner, die Generationen von Ärzten ausgebildet haben, fragen, wie sich heutzutage junge Krankenhausärzte die notwendige Erfahrung aneignen wollen, wenn sie immer nur stundenweise in den Spitälern aufkreuzen. Entsprechend geringer wird die Befriedigung ausfallen, die ihnen ihr Beruf eigentlich geben könnte.
Der Begriff der Work-Life-Balance lässt sich nicht auf alle Berufe in gleicher Weise anwenden. Gerade deshalb kann er wertvoll sein, weil er Unterschiede markiert zwischen Berufen, die wenig Selbstverwirklichung, aber viel Verschleiss bedeuten, und eher kreativen Tätigkeiten. Das sollte auch Auswirkungen auf die Arbeitszeit und die Bezahlung haben. Aber die Rede von der Work-Life-Balance kann auch zu einer Fehleinschätzung dessen führen, was die Berufsarbeit im positiven Sinn bedeuten kann.