Das Ziel ist klar: Halbierung des Energieverbrauchs, Netto-Null Treibhausgas und 100 Prozent erneuerbare Energie. Davon sind wir meilenweit entfernt.
Seit Jahren plädieren Schweizerinnen und Schweizer in seltener Eintracht dafür, in Zukunft von importierter, nicht erneuerbarer auf einheimische, erneuerbare Energie umzustellen. Die ernüchternde gegenwärtige Situation: Noch immer sind 75 Prozent unseres Energieverbrauchs fossiler Natur. Durch den Ukrainekrieg aufgeschreckt, stellen wir zudem verunsichert fest, dass davon über 13 Prozent aus Russland stammt.
Reden statt handeln
Wir sollten, man müsste, ich bin dafür – so tönt es seit bald 20 Jahren in unserem Land, wenn über die Energiezukunft diskutiert wird. Erst der Ukrainekrieg macht klar, wie prekär es darum steht. Wir wollen zwar alle weg von importiertem Öl und Gas, doch was bedeutet das? Wir werden massiv mehr elektrischen Strom benötigen.
Von den heute verbrauchten 56 Terawattstunden (TWh) Strom stammen 66 Prozent aus einheimischer Wasserkraft, 10 Prozent aus Sonne, Wind, Biomasse, rund 20 Prozent aus Atomkraft und 4 Prozent aus fossilen Quellen (Blick). Die Schweiz hat den Ausstieg aus der Atomenergie bis in 20 Jahren beschlossen. Die dringend notwendigen Ausbaupläne des Bundesrates zur Erhöhung des Anteils einheimischer Stromproduktion werden von allen Seiten bekämpft. Ernüchternd: Die Schweiz weist nur sieben Prozent erneuerbare Energie (Sonne, Wind, Biomasse) auf. Innerhalb der EU kam es hingegen innert 10 Jahren zu einer Verdoppelung erneuerbarer Energie. In Deutschland zum Beispiel stieg dieser Anteil innert 20 Jahren von sieben auf über 40 Prozent.
Konnten wir uns früher auf einen funktionierenden europäischen Strommarkt verlassen, stehen wir heute diesbezüglich im Regen. Der traurige Schnellschuss des Bundesrates 2021 mit der Aufkündigung des Rahmenabkommens hat automatisch das Stromabkommen vom Tisch gewischt.
Und jetzt: Worauf warten wir?
Unser Denken und unser politisches System als Hindernisse
Die Ständerätin Heidi Z’graggen fordert ein Moratorium für freistehende Solaranlagen im Berggebiet. «Sie listet in einem langen Katalog Vorgaben und Einschränkungen auf, die für den Bau von Solarparks in den Bergen gelten sollen» (Neue Zürcher Zeitung).
«Wegen der Belastung der Umwelt übt Landschaftsschützer Raimund Rodewald scharfe Kritik» (Tages-Anzeiger) an den Ausbauplänen Simonetta Sommarugas zur Förderung der Wasserkraft (Erhöhung bestehender Staudämme).
Gegen Solarprojekte in den Alpen (z. B. schwimmende Solaranlagen auf Bergseen), für die beschleunigte Verfahren für Anlagen ausserhalb der Bauzone nötig sind, wehren sich Kantone und Landschaftsschützer. «Die Konferenz kantonaler Energiedirektoren (ENDK) begrüsst die Klärung der Frage, unter welchen Bedingungen Freiflächen-Anlagen überhaupt bewilligungsfähig sind» (Tages-Anzeiger).
Die Oberwalliser Gemeinde Grengiols plant einen riesigen Solarpaneele-Park auf fünf Quadratkilometern (ca. 700 Fussballfelder) im sonnigen Saflischtal. Dort könnten auf 2000 Metern Höhe zwei TWh Strom produziert werden. Der Gemeindepräsident von Grengiols: «Das Projekt ist sensationell und ein Steilpass für unser Dorf. Wir müssen in der Schweiz mehr in Solarstrom investieren.» (Sonntagszeitung) Doch auch hier blockt die Stiftung für Landschaftsschutz und bezeichnet das Projekt als Gigantismus.
Wir sind uns einig: Wir brauchen eine unabhängige Energieversorgung. «Die Planung und Bewilligung von Wind-, Solar- und Wasserkraftanlagen muss beschleunigt werden. Dafür braucht es aber auf kommunaler Ebene partizipative Begleitprozesse» (Neue Zürcher Zeitung).
Andreas Züttel, Professor für physikalische Chemie EPFL und renommierter Energieforscher, sagt in einem Interview: «Wir sollten die Photovoltaik so schnell wie möglich weiter ausbauen. Hier könnten Fördermassnahmen helfen. Wir haben in Deutschland gesehen, wie gut das funktionieren kann» (Handelszeitung, Beilage «Renewable Energy»). Und er rät uns: «Dann müssen wir weitere Wasserkraftwerke bauen und bestehende erweitern. Wir müssen es einfach tun und nicht wegen jeder Froschumsiedlung Projekte behindern.»
Diese Ratschläge sind beachtenswert und verweisen auf unser spezifisch schweizerisches Problem: Gegen höhere Subventionierung der Photovoltaik sperren sich Politikerinnen und Politiker. Der Markt soll es richten. Die Erhöhung bestehender Stauseemauern und grossflächige Solarparkanlagen in den Bergen werden von naturschutznahen politischen Kreisen vehement blockiert. Auch die Kantone Wallis und Graubünden wehren sich gegen die Absicht des Bundesrates, die relevanten Bewilligungsverfahren zu beschleunigen. Sie wollen die bestehenden Energieanlagen partout in die eigenen Hände nehmen («Blockade am Berg», Neue Zürcher Zeitung).
Unsere Mentalität und das föderale System blockieren eine zeitgemässe, überfällige Energiepolitik. Dabei geht vergessen, dass wir heute jährlich 10 Milliarden Franken für importierte Energie ins Ausland überweisen. Wo doch Investitionen in erneuerbare Energien in der Schweiz der hiesigen Wirtschaft zugute kämen.
Solarstrom: Überraschende neue Erkenntnisse
Der Maschineningenieur Jürg Rohrer ist Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Er und sein Team sind spezialisiert auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz und haben frühere Schätzungen für einheimische Solarstromproduktion überraschend widerlegt. Statt 16 kommen sie auf ein Potenzial von 44 Terawattstunden – produziert ausschliesslich auf Hausdächern. Einer der berücksichtigten Faktoren: Der Wirkungsgrad der Solarmodule ist inzwischen von 17 auf 20 Prozent gestiegen. Doch Rohrer warnt vor Euphorie. «Denn das Eine ist es, das Potenzial der Solarenergie korrekt zu berechnen. Die viel grössere Herausforderung ist es, dieses Potenzial umzusetzen» (NZZ am Sonntag).
In einer Publikation der Smart Media meldet die Firma Amstein + Walthert, die sich für eine dekarbonisierte Energieversorgung der Schweiz engagiert, zum Thema Solarstrom von Hausfassaden: «Photovoltaik wird zukünftig zur Selbstverständlichkeit werden, in kostengünstigen Standardbauten auch in den Fassaden» (amstein-walthert.ch). Die Unternehmung weist darauf hin, dass die Digitalisierung auch die Energiebranche verändert und heute smarte Ergebnisse für Unternehmungen, einzelne Gebäude, Areale, Städte und ganze Regionen entwickelt werden.
In derselben Smart-Media-Beilage vermeldet die Firma Solarwall: «Häuser sollen künftig nicht nur Energieverbraucher sein, sondern zu Energielieferanten werden. Mittels gebäudeintegrierten Photovoltaiklösungen kann die unausweichliche Energiewende mitgestaltet werden» (solarwall.ch). Interessant ist zusätzlich zur Fassadengestaltung auch die Integrierung von lichtdurchlässigen Teilen wie Verglasungen, Geländern oder Glasdächern.
Weitere Beispiele kreativer Anwendung der Solarenergie sind zwei Mehrfamilienhäuser in Kloten, die mittels einer Sonnen-Eisspeicheranlage geheizt werden. «Trotz Nebel und Minusgraden mit der Sonne heizen» titelt die Firma Th. Huonder + Partner ihren Bericht (https://thhp.ch). «Wenn die Sonne alleine nicht mehr ausreicht, um zu heizen, springt die Wärmepumpe an. Sie holt die Energie aus einem mit Wasser gefüllten Speicher. Da die Wärmepumpe dem Wasser die Energie entzieht, wandelt sich das Medium nach und nach in Eis um und setzt in diesem Prozess reichlich latente Energie frei. Sobald die Solarkollektoren eine Temperatur über Null aufweisen, können sie das so entstandene Eis zum Schmelzen bringen und der Kreislauf kann von vorne beginnen.»
Neue Prioritäten im Jahr 2022: Unsere Politiker sind gefordert
Klimaerwärmung, Ziele unserer Klimapolitik, Energieknappheit, Ersatz fossiler Energielieferanten, der Ukrainekrieg und seine Folgen, diese neuen Prioritäten in der schweizerischen Energiepolitik rufen nach einem Umdenken der Verantwortlichen. Prioritäten müssen verbindlich neu festgelegt werden. Frühere Bedenken gegen neue Formen der Stromerzeugung innerhalb unserer Landesgrenzen sind zu relativieren und gegebenenfalls durch übergeordnete Gesetzgebung zu entkräften.
Wir müssen nicht nur reden, sondern auch handeln.
(Der zweite Teil dieses Beitrags zur schweizerischen Energiezukunft folgt in 14 Tagen.)