In den vergangenen beiden Jahren haben Teile der französischen Administration immer wieder besorgt nach Griechenland geschaut. Die Streiks und Blockaden der Camioneure und der Bauern, die Proteste der Studenten und die aufflammenden Strassenschlachten waren für sie Zeichen an der Wand. Das könne auch in Frankreich passieren, wurde hinter vorgehaltener Hand gesagt. Nun ist es soweit.
Politiker mögen noch so bigott und ungeschickt sein, die Korruption mag uns mit ihrer Ungeniertheit und Dreistigkeit die Fassung rauben: Das alles ist nur die Oberfläche. Unter ihr liegt jenes Problem, an dem unsere Gesellschaften mit höchster Wahrscheinlichkeit grausam scheitern werden. Denn niemand kann bündig erklären, wie mit Schulden umzugehen sei. Die Menschen spüren das und sehen nicht ein, warum gerade sie Verzicht üben und Opfer bringen sollen, wenn doch ganz ungewiss ist, ob das irgendeinen Nutzen bringt.
Grosse Beträge in kleinen Zirkeln
Dass der Umgang mit dem Geld völlig ausser Kontrolle geraten ist, zeigt sich daran, dass über die grossen Summen Politiker in exklusiven Zirkeln entscheiden, während über die kleinen Beträge die Parlamente abstimmen. Ist das nicht schon ungereimt genug, so muss man zunehmend den Eindruck gewinnen, dass der Umgang mit Geld systematisch den gesunden Menschenverstand ausser Kraft setzt.
Zwei Denkweisen stehen sich diametral gegenüber. Das ist schon schwierig genug. Vollends wahnsinnig wird das Ganze aber, wenn diese Denkweisen miteinander verknäuelt werden, so dass viele Hände das Steuer mal hierhin und mal dahin reissen und viele Füsse gleichzeitig aufs Gas und auf die Bremse treten. Aber der Reihe nach:
Die konservative und die dynamische Denkweise
Die konservative Denkweise haben wir alle gelernt, und sie ist uns grundvertraut. Sie besagt, dass man jeden Franken nur einmal ausgeben kann. Und wenn man ihn sich leiht, muss man ihn irgendwann mit Zinsen zurück zahlen. Darüber lässt sich Buch führen. Plus und Minus erscheinen in den Bilanzen im privaten Sektor und in den staatlichen Haushalten. Bis vor kurzem waren sich die Politiker jedweder Couleur darin einig, dass auch die öffentlichen Haushalte die Schuldenlast in vernünftigen Grenzen halten müssen. Denn Zins und Tilgung dürfen nicht die Leistungskraft unserer und der nachfolgenden Generationen übersteigen.
Die dynamische Denkweise – dieser Ausdruck wird hier mangels eines treffenderen gebraucht – ist umfassender. Sie betrachtet Geld nicht als eine fixe Grösse, sondern als ein Mittel, das zu allererst die Wirtschaft in Schwung zu halten hat. Ein äusserst ehrenwerter Vertreter dieser Richtung ist der amerikanische Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, Paul Krugman. Wie kein zweiter hat er jahrelang der Bush-Administration mir ihrer Begünstigung der Reichen die Leviten gelesen. Er schreibt regelmässig seine Kolumnen in der New York Times und berät die Obama-Administration.
Krugman argumentiert, dass ein Zurückfahren staatlicher Ausgaben genau den Effekt herbeiführt, den man vermeiden möchte. Denn wenn der Staat nicht investiert, den Hilfsbedürftigen die Unterstützung und den Mittelschichten die eine oder andere Vergünstigung entzieht, geht die Wirtschaft zurück und die Armut weitet sich aus. Entsprechend müssen dann wieder teure Hilfsprogramme aufgelegt werden. Ganz zu schweigen von den indirekten Kosten, die mit dem Malaise der Arbeitslosigkeit und dem Niedergang der heimischen Industrie verbunden sind.
Staatsverschuldung - kein Problem?
Vertreter dieser dynamischen Sichtweise lassen sich nicht durch das gigantische Anwachsen der Staatsverschuldung irritieren. Denn sie betrachten Geld rein funktional, also nicht in absoluten Grössen, und fragen zum Beispiel, ob der Staat, wenn er viel ausgibt, privaten Investoren Geld entzieht, indem die Zinsen steigen. Wenn das nicht geschieht, ist für sie die Welt einigermassen in Ordnung. Der Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger Leiter der deutschen Monopolkommission Carl Christian von Weizsäcker formuliert trocken: „Die Frage ist doch, ob eine niedrigere Staatsverschuldung überhaupt sinnvoll ist. Ich glaube, die Finanzkrise hat gezeigt, dass wir hier umdenken müssen.“ (www.zeit.de/wirtschaft/2010-10)
Fragt man als Laie in diesem Zusammenhang nach der Geldwertstabilität, so verweisen die Vertreter der dynamischen Denkrichtungen darauf, dass sie im Grossen und Ganzen bis jetzt nicht gelitten habe. Natürlich kann man fragen, ob das immer so weiter geht, aber da beginnt dann das Feld hoch komplexer Spekulation. Zwei andere Punkte geben unmittelbar Anlass zur Unruhe:
Verlust von Glaubwürdigkeit und Autorität
Da ist einmal die Tatsache, dass die Politiker ein bisschen den Dynamikern folgen und ein bisschen den Konservativen. Zur Rettung der Banken und zur Stützung eigentlich bankrotter Länder geben sie Geld im Wert von mehreren Jahreshaushalten ihrer Länder aus, und dann wird wieder auf die Bremse getreten. Würden sie den Dynamikern wirklich trauen, müssten sie das Geld auch nach innen leiten. Das geschieht aber nicht. Auf diese Weise aber verspielen die Politiker jede Glaubwürdigkeit und Autorität. Sie handeln nicht konsistent.
Nicht besser sieht es bei den Wirtschaftsexperten aus. Sie bilden seit Jahrzehnten Schulen, gewinnen Nobelpreise und beraten Regierungen. Was sie aber nicht erreichen, sind stabile Finanzen und ein halbwegs gesicherter Wohlstand für die Mehrheit der Menschheit. Wirtschafts- und Finanzkrisen wüten wie Naturkatastrophen. Im Grunde ist das unbegreiflich, denn die Wirtschaft ist durch und durch eine menschlich-kulturelle Erfindung. Alle, die an ihr beteiligt sind, wissen, dass sie am besten in Win-Win-Situationen profitieren. Die experimentelle Ökonomie zeigt sogar, dass es einen angeborenen Sinn für Fairness gibt, der sich in allen Kulturen nachweisen lässt. Und dennoch taumelt die Wirtschaft von einer Krise zur anderen – mit kurzen Phasen der Stabilität.
Im NZZ-Folio vom Januar 2009 über die Finanzkrise wurde vermutet, dass unsere Nachfahren eines Tages fragen werden: „Wie haben die diesen Schlamassel bloss angerichtet?“ Tatsächlich müssen wir heute sehen, dass der gesunde Menschenverstand an Politik und Wirtschaft irre werden kann.