Mit dem Titel kann die Erwartung geweckt werden, dass es eine Art weiblichen Blick gebe, der die Strassenbilder prägt. Unterscheiden sich diese Bilder also von dem, was man seit Jahrzehnten unter Strassenfotografie versteht?
Gulnera Samoilova setzt gleich mit dem ersten Bild aus ihrem eigenen Bestand zwei Erkennungszeichen: das Thema und die Ästhetik. Sie hat das Bild während einer Kirmes in einem russischen Dorf aufgenommen. Zwei Jungen schlecken Zuckerwatte, und die Formen, Strukturen und Farben der Watte verschmelzen mit denen der Wolken im Hintergrund. Harmonie in doppelter Hinsicht. Aber man wird dieses bildnerische Beispiel nicht überdehnen wollen.
Das würde der Fotografin Gulnera Samoilova auch nicht gerecht. Denn ihre Themen sind nicht immer soft, und sie ist es auch nicht. Grosse Bekanntheit erlangte sie mit Fotos, die sie unmittelbar nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 aufgenommen hat. Als sie es krachen hörte, rannte sie mit ihrer Kamera sofort zum Ort des Geschehens. Diese Bilder wurden später mit dem World-Press-Fotopreis ausgezeichnet.
Herzlichkeit und Verständnis
Aber indem sie 100 Fotografinnen aus Beiträgen auf Instagram, die unter «womanstreetphotographers» gepostet wurden, aussuchte, verfolgte sie das Ziel, mit diesen Beiträgen aus 34 Ländern so etwas wie eine Blickweise «durch die Augen von Frauen» hervorzuheben, um damit, wie sie es nennt, Herzlichkeit und Verständnis zu fördern. Es gibt eine ganze Reihe von Bildern, deren Motive diesem Anliegen ganz offensichtlich nahekommen. Bei anderen ist das nicht so evident, wie überhaupt der Begriff der «Strasse» hier sehr weit gefasst ist. Dazu können auch Innenräume, Szenen in der Natur oder am Meer gehören.
«Street Photography» ist eine seit Langem etablierte Disziplin. Von Anfang an gehörten auch Frauen dazu. Die amerikanische Fotografin Melissa Beyer erwähnt in ihrer Einleitung zu diesem Band auch Marianne Breslauer, von der sie ein bekanntes Foto von 1937 aus Paris abgebildet hat.
Die Liste der Fotografinnen auf diesem Gebiet ist darüber hinaus lang. Zu den frühen Berühmtheiten gehören Dorothea Lange, Inge Morath, Eve Arnold und Lisette Model. Von der Düsseldorfer Schule hat sich später Candida Höfer auf dem Gebiet der Strassenfotografie einen Namen gemacht, und Barbara Klemm hat einen Band unter dem Titel «Strassenbilder» veröffentlicht. Es ist also nicht so, als müsste die Strassenfotografie für Fotografinnen erst neu entdeckt oder erschlossen werden.
Erotik
Aber es gibt eine Pointe. Einige der bekanntesten Strassenfotografen haben sich sehr intensiv auf Frauen im Strassenbild konzentriert. 1975 betitelte Garry Winogrand seine Fotografien mit «Women are beautiful». Eine 2017 erschienene Zusammenstellung, die von dem renommierten Kunsthistoriker Werner Spies eingeleitet wurde, trug den Titel «Women». Die Fotos stammten von Peter Lindbergh und Garry Winogrand, wobei Peter Lindbergh, der die Modefotografie revolutioniert hatte, zum Teil mit Models arbeitete, was ihm zwar fantastische Fotos, aber auch ein deutliches Grummeln der Fachwelt eintrug. 2020 erschien von ihm der Band «Untold Stories». Das war der vorzüglich gestaltete Katalog zu einer Ausstellung im Düsseldorfer Kunstpalast, die Lindbergh mit grösster Leidenschaft zusammengestellt hatte. Kurz vor der Eröffnung starb er völlig unerwartet.
Der «männliche Blick» hat zumindest bei einzelnen Fotografen, zu denen allerdings die mit Recht berühmtesten gehören, eine klar markierte erotische Komponente. Eine solche Komponente wird man in der Zusammenstellung von Gulnara Samoilova nicht finden. Und vergleicht man diese Bilder mit der Ausstellung «Street.Life.Photography», die 2018 in den Deichtorhallen Hamburg, 2019 im Kunst Haus Wien und 2020 im Fotomuseum Winterthur gezeigt wurde, dann sieht man, wie schwer es ist, gegenüber den Jahrzehnten überzeugender fotografischer Arbeiten neue Akzente zu setzen. Bei einigen Bildern ist das ohne Zweifel gelungen. Andere bieten zumindest Stoff für Fragen und Diskussionen. Anregend ist dieser Band allemal.
«Women Street Photographers», herausgegeben von Gulnara Samoilova, Prestel Verlag, München 2021, 220 Seiten, zahlreiche Fotografien in Farbe und Schwarzweiss, ca. 35 Euro.