Erschüttert und verstört reagiert die Öffentlichkeit auf die Nachricht von der jüngsten Schiffskatastrophe im Mittelmeer. Die italienische Regierung und der Papst fordern Massnahmen, die EU zeigt sich zu solchen entschlossen. Worin werden diese bestehen? Vielleicht wird man mehr Flüchtlinge aus dem Meer retten, einige an der Überfahrt hindern, die Betreuung von Angekommenen da und dort verbessern. Schön. Aber es werden weiterhin Menschen ertrinken, weil sie um jeden Preis und ohne Beachtung europäischer Einreisebestimmungen oder Asylrechte ins vermeintliche Reich des Wohlstands und der Sicherheit gelangen wollen.
Auf wen zeigen?
Wo Hunderte und im Lauf der Zeit Tausende umkommen, stellt sich die Schuldfrage. Sie scheint für viele klar zu sein: Die Schlepper sind schuld. Sie machen mit der Not der Menschen das grosse Geld und schrecken nicht vor Untaten zurück. Trotzdem sind ihre Dienste bei Flüchtlingen und Migranten gefragt. Diejenigen, die sich den Banden für teures Geld anvertrauen, wissen um das Risiko. Auch Menschen auf der Flucht sind über das Weltgeschehen informiert. Aber sie haben nicht nur keine Wahl bei Art der Passage, sondern sie können auch nicht bleiben, wo sie sind. Wo immer sie sich auf ihrer oft langen Flucht aufhalten, sind sie illegal und schutzlos. Die Schlepper kommen mit den Geflohenen ins Geschäft, weil sie ihre zwielichtigen Angebote unter den gegebenen Umständen faktisch als einzige Möglichkeit anpreisen können.
Die andere oft gehörte Antwort auf die Schuldfrage zeigt auf die EU, Europa, den Westen – auf «uns». Zum einen müsse der Wanderungsdruck von Süden und Osten mit einer klar kommunizierten Migrationspolitik kanalisiert werden, und zum anderen solle Europa die aus Kriegs- und Krisengebieten fliehenden Menschen beherzter unterstützen – mit mehr Hilfe vor Ort sowie durch direkte Übernahme von Geflohenen in europäische Asylländer. Gefordert wird nicht nur eine neue Politik anstelle der geltenden Dublin-Regeln, sondern eine gelebte Kultur der Solidarität.
Begrenzte Möglichkeiten des Politischen
Zweifellos sind solche Schritte überfällig und dringend zu wünschen. Wer sie befürwortet, sollte sich jedoch den Zweifel eingestehen, ob sie denn auch politisch durchsetzbar seien. Es ist nämlich zu befürchten, dass solche Bestrebungen fast überall in Europa umgehend von fremdenfeindlichen Gruppierungen zur Profilierung genutzt und damit torpediert würden.
Doch selbst wenn es gelingen sollte, im Umgang mit Migration und Flucht die Zeichen politisch neu zu setzen, wird die Zahl der Menschen, die – egal ob mit guten oder weniger guten Gründen – nach Europa gelangen wollen, immer viel grösser bleiben als die Aufnahmekapazitäten der Zielländer. Das Problem, dass man Menschen zurückweisen muss und dass ein Teil der nicht Zugelassenen oder Zurückgewiesenen es dann illegal – und dadurch sehr oft auf lebensgefährliche Weise – versucht: dieser tragische Konflikt lässt sich kaum beseitigen.
Begrenzte Reichweite des Humanitären
Auf die Flüchtlings- und Migrationsnot geben viele eine kompromisslose Antwort mit der Devise «Kein Mensch ist illegal». Das ist nicht nur human, sondern angesichts von Notleidenden, die an einem Ufer oder einer Grenze stranden, intuitiv evident und irgendwie unabweisbar. Es ist denn auch beeindruckend, welches Mass an spontaner Hilfe engagierte Menschen an Hotspots wie Lampedusa den Ankömmlingen gewähren.
Gleichzeitig aber ist diese so humane Parole nicht politikfähig. Die geläufige Polemik gegen die «Festung Europa» verkennt, dass Staaten begrenzte Gebilde sind, und zwar nicht nur im Sinn des sich Abschliessens nach aussen, sondern auch der limitierten Ressourcen. Die begrenzten Möglichkeiten für Öffnung und Solidarität müssen auch in der Schweiz im politischen Prozess diskutiert und in unterschiedlichen weltpolitischen Situationen jeweils aufs Neue vereinbart werden. Pauschale Anklagen jedoch helfen nicht weiter.