Unrter ihnen befinden sich IKRK-Präsident Peter Maurer, ExChef der humanitären Hilfe des Bundes Toni Frisch, SRG-Generaldirektor Roger de Weck, Prof. Gilles Carbonnier vom Institut für Entwicklungsstudien, Glückskette-Direktor Tony Burgener, ZEWO-Geschäftsführerin Martina Ziegerer oder Afrika-Korrespondent Patrick Wülser.
Das Geleitwort unseres Aussenministers zum Buch lässt den Leser, die Leserin vorerst eher skeptisch werden: Ausser platten Fragen und hinlänglich bekannten Antworten ist nichts viel Motivierendes zu erfahren. Man darf nur hoffen, dass der Text nicht von Didier Burkhalter persönlich, sondern von einem seiner departementalen Serienschreibern stammt. Sätze wie „Das EDA, zu dem die humanitäre Hilfe der DEZA gehört, sowie die Schweizer Nichtregierungsorganisationen sind im humanitären Bereich heute schon sehr engagiert“ oder „Die Schweiz wird sich weiterhin aktiv und intensiv einsetzen, um langfristig einen Beitrag zur Bekämpfung von Konfliktursachen, zur Stärkung der Zivilgesellschaft, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung von verantwortungsvoller Regierungsführung auf nationaler und lokaler Ebene zu leisten“ erstaunen in einem Fachbuch mehr von der Satzlänge her als vom Neuigkeitswert.
Strapazierter Begriff „Solidarität“
Zum Glück greifen die einzelnen Beiträge die Themen dann konkreter und teilweise auch selbstkritischer auf. So macht der frühere Direktor der Caritas Schweiz, Jürg Krummenacher, einen spannenden Rückblick auf den Begriff der „Solidarität“ und wie sich dessen Bedeutung im Laufe der Zeit gewandelt hat. Aus der ehemals gegenseitigen Verantwortung von zwei und mehr Menschen über Arbeitersolidarität und Armenpflege zieht er den Faden zur heutigen „solidarischen Schweiz“, die sich nicht zuletzt durch gemeinschaftliches Zusammenleben in den Bergregionen unseres Lands entwickelt hat. Die Gründung der Schweiz. Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG, 1810) war dabei ein wichtiger Meilenstein – während heute der Begriff „Solidarität“ eher inflationär verwendet wird.
Schaden statt Nutzen
Auf die Hilfsorganisationen sind in den letzten Jahren neue, gigantischere aber zugleich schwierigere Herausforderungen zugekommen. Botschafter Manuel Bessler, der heutige Leiter der staatlichen humanitären Hilfe bei der DEZA, spricht vom „umfangreichen Werkzeugkasten“, den gerade unser Land für Einsätze bei Krisen und Katastrophen hat. Zu allen Abklärungen, ob unsere Hilfe sinnvoll ist, sei vor allem das Prinzip des „Do no harm“ wichtig „ ...wonach darauf geachtet wird, dass negative Auswirkungen von humanitären Interventionen (wie Konfliktverlängerung durch Nahrungsmittelhilfe, Verteuerung der lokalen Preise durch Grosseinkäufe, Korruption oder Bevorzugung einer ethnischen Grup-pierung) vermieden werden.“ Und weiter: „Der Einbezug der betroffenen Menschen in die Planung und Umsetzung der humanitären Hilfe sowie die Rechenschaftspflicht ihnen gegenüber ist ein zentrales Anliegen…“
Trotz dieser guten Vorsätze kann man sich fragen, ob die Weltgemeinschaft nicht gerade im Fall des Syrien-Konflikts die Situation verpennt hat, viel zu spät vor Ort eingegriffen wurde – ein Vorwurf, den selbst DEZA-Leute hinter vorgehaltener Hand bestätigen.
Bei Ebola viel zu spät reagiert
Eine ähnliche Kritik findet sich im Buch auch im Artikel von Afrikakorrespondent Patrick Wülser. „Gegen 12 000 Tote hat die Ebola-Epidemie in Westafrika vermutlich gefordert. Kaum jemand erkannte die Gefahr frühzeitig. Niemand war ihr gewachsen und niemand wollte ihr zu nahe kommen. Die Katastrophe kam jedoch nicht überraschend“. Nach wie vor seien die Gesundheitsverhältnisse auf dem afrikanischen Kontinent in vielen Ländern absolut ungenügend. Es gebe neue Katastrophen, die „alten“ geraten in Vergessenheit und die maroden medizinischen Verhältnisse würden weiter bestehen. Bis zur nächsten Katastrophe…
Katastrophen machen Medien hilflos
Und damit greifen die beiden Herausgeber ein weiteres, heikles Thema auf: Können im Katastrophenfall ohne Medienaufmerksamkeit überhaupt noch genügend Spenden generiert werden? Diese Frage beantwortet in einem Interview SRG-Generaldirektor Roger de Weck: „Vorweg: Derzeit sind sämtliche Medien überfordert, denn ein Drittel der Welt ist eine einzige Katastrophe. … Jede Katastrophe bringt nämlich jenes Mass an Leid, das sich journalistischem Einordnen verweigert. Im Journalismus ist wie immer die Aktualität ein Kriterium. Eine neue Katastrophe findet mehr Aufmerksamkeit, als wenn es sich um die jahre- oder jahrzehntelange Fortsetzung einer Katastrophe handelt… Lauter Kriterien zwar, aber trotz aller Professionalität stehen wir vor Katastrophen etwas hilflos da.“
Und dann doch eine Zusicherung, die zuversichtlich stimmt: „Die SRG steht 100-prozentig zur Glückskette. Es wäre verantwortungslos, wenn die grosse Reichweite der Radio- und Fernsehkanäle der SRG und ihre Webseiten nicht auch dem guten Zweck diente, Leid zu lindern.“
Blick in die Zukunft
Die Solidaritäts- und Hilfsszene hat sich verändert und verändert sich weiterhin: Die klassischen Hilfswerke sehen sich immer mehr neuen, oft staatlichen oder privaten ausländischen Organisationen gegenüber, die andere Strukturen haben, sich schlecht koordinieren lassen, andere Regeln befolgen und auch ideologisch nicht mehr „westlich“ sondern eher „orientalisch“ geprägt sind. Odilo Noti, Kommunikationsleiter und Direktionsmitglied bei der Caritas Schweiz, greift in seinem Artikel die Problematik des Helfens und damit verbundenen Missionierens auf. Zudem stammen die Werke oft aus Ländern, die sowohl Hilfsempfänger wie Geber zugleich sind. Ruth Daellenbach, Fachfrau für internationale Zusammenarbeit, rät den NGOs für die nähere Zukunft Kooperations- mechanismen und Verständnis von Partnerschaften zu überdenken: „Weiter scheinen NGOs dann besonders positioniert zu sein, wenn sie sich thematisch spezialisieren und/oder in globalen Netzwerken arbeiten können.“
Buchkritik
Den beiden Herausgebern ist unbestritten eine umfassende und für Fachleute facettenreiche Zwischenbilanz der „Humanitären Hilfe Schweiz“ gelungen. Die Liste der jeweils in ihrem Fachbereich kompetenten Autorinnen und Autoren ist beeindruckend. Und auch der Anhang mit vielfältigen Informationen zu Hilfswerken, zum Spendewesen und zu den Autoren ist eine hilfreiche Ergänzung. Auch wenn Anduk Arbenz in der „UnternehmerZeitung“ richtigerweise misstrauisch fragt „bis zu welchem Grad das Buch im Hintergrund seiner finanziellen Unterstützung durch die Glückskette und die staatlich DEZA dem Anspruch an Objektivität gerecht werden kann.“
Ich selbst frage mich eher, ob ein Buch im Umfang von 376 Seiten für Durchschnittsleser nicht zu mastig ist. Heute liest kaum mehr jemand solche Wälzer und selbst bei Fachleuten dürfte es schon bald auf dem Bücherregal sein wenig benutztes Dasein fristen. Weniger wäre wohl mehr gewesen.
Was mich aber am allermeisten stört ist die äussere Aufmachung: Seit langem habe ich kein optisch so abgegriffenes Buch mehr in Händen gehabt. Im ersten Moment wirkt es verbleicht und „abgeschossen“, wie ein Antikband, dessen Rücken jahrelang ungelesen an der Sonne gelegen ist. Erst beim zweiten Blick entdeckt man diesen gazeartigen sterilen Verband, an welchem sich offenbar ein Grafiker in Verkennung der Thematik vergriffen hat. Hoffentlich haben nicht allzu viele potenzielle Leser ihre taktile Abneigung, diese Flexcover eines an und für sich kostbaren Werks überhaupt in die Hand zu nehmen…aber vielleicht wollte man ein Buch über Katastrophen absichtlich in eine katastrophale Aufmachung einbinden?
Walter Rüegg / Christoph Wehrli (Hrsg.)
Humanitäre Hilfe Schweiz
Eine Zwischenbilanz
NZZ Libro, ISBN 978-3-03810-135-2
(Fr. 44.--)