„Solange das Kolosseum existiert, solange existiert Rom“, schrieb der Benediktinermönch Beda Venerabilis. „Wenn das Kolosseum einstürzt, stürzt Rom ein – und die ganze Welt.“
Beda Venerabilis, später zum Heiligen gekürt, starb 735. Noch steht das Kolosseum. Es hat eine wilde, fast zweitausendjährige Geschichte hinter sich. Hier kämpften längst nicht nur Gladiatoren, und hier wurden längst nicht nur Menschen zu Tode gequält oder von wilden Tieren zerrissen.
Eine eben eröffnete Ausstellung innerhalb der Mauern des Römer Kolosseums zeigt, was hier im Laufe der Jahrhunderte alles geschah: Schreckliches und Romantisches.
Finanziert mit dem jüdischen Goldschatz
Das Kolosseum war zwischen 72 und 80 nach Christus gebaut worden. Auftraggeber war Kaiser Vespasian. Schon damals war es das weltweit grösste Amphitheater. 50‘000 Zuschauer fanden Platz. Finanziert wurde es mit dem erbeuteten Goldschatz des Jerusalemer Tempels. Der zweite Tempel war nach dem jüdisch-römischen Krieg im Jahr 70 nach Christus von den Römern zerstört und ausgeraubt worden. Vespasian wollte mit dem Prunkbau zeigen, dass er grösser ist als der ermordete grosse Nero.
Vespasian stammte aus dem römisches Herrschergeschlecht der Flavier. Deshalb nennen die Italiener das Kolosseum oft „Anfiteatro Flavio“.
Auf Einladung des Kaisers fanden im Kolosseum Gladiatorenkämpfe und grausame Spiele statt. Doch nicht nur: Kriege wurden nachgestellt und Seeschlachten inszeniert. Dazu wurde Wasser in die Arena geleitet. Die Bevölkerung hatte freien Zutritt. Mit „Brot und Spielen“ wollte man die Menschen bei Laune halten. Unter der Arena befanden sich Kellerräume und Kerker. Darin schmachteten Todeskandidaten. Auch wilde Tiere wurden hier gehalten.
Luxuswohnungen für Reiche
Seit dem Jahr 523 fanden hier keine Gladiatorenkämpfe mehr statt. Sofort begann das Bauwerk zu zerfallen. Die Römer schleppten Steine weg und bauten damit ihre Häuser.
Dort, wo früher die Zuschauer sassen, wurden jetzt Gemüse- und Kräutergärten angelegt. Im Innern des Bauwerks entstanden Läden und Weinkellereien. Ställe für Tiere wurden eingerichtet.
Und immer mehr entwickelte sich das Kolosseum zur Wohnadresse der Reichen. Aristokratische Familien bauten hier ihre Luxuswohnungen. So besetzte die altrömische Adelsfamilie der Frangipani vom 8. bis 10. Jahrhundert einen grossen Teil des ganzen antiken Theaters. 847 wurde das Bauwerk erstmals durch ein Erdbeben schwer beschädigt.
Spital für Pestkranke
Bisher stützte sich die Geschichte des Kolosseums vor allem auf schriftliche Überlieferungen. Die Ausstellungsmacher betonen, dass jüngste archäologische Forschungen zusätzlich wertvolle Informationen brachten. So wurden zum Beispiel in den Mauern Löcher entdeckt, in die man Balken einsetzte, die Fussböden und Decken der Luxuswohnungen trugen.
Später wurde das Kolosseum in ein Spital verwandelt, in dem Pest-Kranke auf ihren Tod warteten. 1349 wurden die Mauern erneut durch ein schweres Erdbeben beschädigt.
Im 16. Jahrhundert wollte Papst Pius V. das Kolosseum dem Erdboden gleichmachen. Grund: Er wollte alles Heidnische im christlichen Rom zerstören. Schliesslich willigte er in einen Kompromiss ein, der vorsah, dass das Kolosseum ein Wallfahrtsort werden sollte. Hier sollte der christlichen Märtyrer gedacht werden.
Mystischer, mythischer Ort
Schon im 16. Jahrhundert wurde das Bauwerk immer mehr Anziehungspunkt für italienische und ausländische Künstler. Jetzt strömten auch Maler, Poeten und Schriftsteller aus dem Norden in die Heilige Stadt und entdeckten das Bauwerk als mystischen und mythischen Ort.
Pieter Bruegels Turm zu Babel war vom Kolosseum beeinflusst. Der Maler hatte Rom 1553 besucht. Der Tessiner Architekt und Bildhauer Carlo Fontana stellte sich im Jahr 1696 das Kolosseum als Heiligtum vor. Im Innern der Mauern sieht er eine Art zweiten Vatikan.
Zur Kirche erklärt
Papst Benedikt XIV. wollte dem entstandenen Rummel ein Ende setzen. 1744 erklärte er das Kolosseum zur Kirche. Sie ist Christus und den Christen gewidmet, die hier den Märtyrer-Tod erlitten. Seither ist das Bauwerk Station auf der „Via Crucis“.
Neue Forschungen legen nahe, dass entgegen lange vorherrschender Meinung hier keine Christen getötet wurden. Sie wurden anderswo, unweit des Kolosseums, hingerichtet.
Innerhalb der Mauern herrscht ein seltsames Mikroklima. Dieses rief Botaniker auf den Plan, die hier exotische Pflanzen züchteten und beobachteten.
Goethe schrieb 1787 in seiner „Italienischen Reise": „Einen vorzüglich schönen Anblick gewährte das Coliseo. Es wird nachts zugeschlossen; ein Eremit wohnt darin in einem Kirchelchen, und Bettler nisten in den verfallenen Gewölben.“
Ausdruck der italienischen Identität?
Im 18. Jahrhundert begannen dann die seriösen archäologischen Forschungen. Mehr und mehr entdeckte und erforschte man das Kellerlabyrinth mit seiner schrecklichen Geschichte.
Der Archäologe Carlo Lucangeli fertigte aufgrund seiner Forschungen ein riesiges Holzmodell des Monuments an, und zwar im Massstab von 1 : 60. So hat nach seinen Vorstellungen das Kolosseum vor dem Zerfall ausgesehen. Das Holzmodell ist heute im Innern des Amphitheaters ausgestellt.
1871, zehn Jahre nach der Einigung Italiens, wurde Rom – nach Turin und Florenz – italienische Hauptstadt. Obwohl der Staat eine Monarchie war, brauchte man ein Parlament. Wo sollte dieses tagen? Viele favorisierten einen geschichtsträchtigen Ort: eben das Kolosseum. Hier, wo einst Löwen Menschen zerfleischten, sollte das italienische Parlament entstehen. Die Idee wurde schnell fallengelassen.
Mussolini verehrte das alte Bauwerk als Ausdruck der italienischen Identität und Stärke. Auch nach dem Faschismus erlebte das Kolosseum neue Aufmerksamkeit: jetzt vor allem im neorealistischen italienischen Film.
Der reiche Retter
In den letzten Jahren bröckelte das Amphitheater immer mehr. Viele Katzen hielten dort Einzug. Sie wurden am frühen Morgen von alten Frauen gefüttert. Die Wächter drückten ein Auge zu. Das antike Bauwerk, Italiens Touristenattraktion Nummer eins mit jährlich fast sieben Millionen Besuchern, drohte zu zerfallen.
Dann kam der reiche Unternehmer Diego Della Valle. Er, der Intim-Feind von Berlusconi, ist Besitzer des Luxuskonzerns „Tod’s“, des Fussballclubs AC Fiorentina und Betreiber des privaten Hochgeschwindigkeitszuges „Italo“. Della Valle sagte sich: Was das Modehaus „Fendi“ kann, kann ich auch. Fendi hatte den Trevi-Brunnen für 2,2 Millionen restaurieren lassen.
Della Valle seinerseits setzt über 30 Millionen Euro ein, um das Kolosseum zu sanieren. Nach dreijähriger Restaurierung ist jetzt die erste Phase abgeschlossen. Die Fassade wurde vom Smog der Grossstadt befreit und erstrahlt wieder in weiss. Nun soll auch das Innere des Bauwerks erneuert werden. So gern man Della Valles Geld hat: ganz glücklich über das aggressive Sponsoring des reichen Diego ist man nicht. „Der italienische Staat kann nicht einmal seinen Touristenmagneten Nummer eins selbst in Stand halten“, sagen Kritiker. Das Thema kommt an der Ausstellung kaum zur Sprache.
Die Römer Ausstellung „Colosseo Un’Icona“ dauert noch bis zum 7. Januar 2018.