Der kulinarische Belle Epoque-Tempel, in dem auch Coco Chanel, Jean Gabin und Marcel Pagnol verkehrten, liegt im Pariser Bahnhof „Gare de Lyon“. Und hier, wo Luc Besson seinen Film „Nikita“ drehte, treffen seit dem 11. Dezember die TGV-Züge aus Zürich und Basel ein.
Früher raste der TGV von Basel über Strassburg in rund viereinhalb Stunden nach Paris. Zielbahnhof war der „Gare de l’Est“. Seit der Eröffnung der Linie Rhin-Rhône saust der Zug neu von Basel über Dijon in die französische Hauptstadt. Jetzt trifft er nicht mehr im Ostbahnhof, sondern im „Gare de Lyon“ ein. Die Verbindung von Zürich nach Paris dauert nur noch gut vier, jene von Basel noch gut drei Stunden.
Der „Gare de Lyon“, der jetzt von mehr und mehr Deutschschweizern entdeckt wird, nennt sich selbst eine „grandiose städtebauliche Leistung“. Hier in den legendären Hallen wird geprotzt. A l’outrance wird hier französische Gloire zelebriert. In Literatur und Film gibt es hier Liebesdramen und Morde, Überfälle und Verrat, Tränen und Wiedersehen.
Der jüngste der grossen Pariser Bahnhöfe
Gebaut wird der „Gare de Lyon“ für die Weltausstellung des Jahres 1900. Damals entstehen das Grand Palais, das Petit Palais, die Brücke Alexandre III. – und eben der neue „Gare de Lyon“. Er ist der jüngste der grossen Pariser Bahnhöfe. Die Reisenden aus Genf hatten schon immer das Privileg, hier anzukommen. Jetzt kommen auch die Deutschschweizer hier an. Auch wenn sich die Franzosen heute mit ihrem TGV und ihren Bahnhöfen brüsten: Sie hatten den Beginn des Eisenbahn-Zeitalters verschlafen. Vor allem Paris, das sich gern als Nabel der Welt sieht, setzt erst spät auf die Eisenbahn – Jahrzehnte nach den Engländern.
Die erste Zugverbindung in Frankreich wird am 1. Oktober 1828 eingerichtet. Die 23 Kilometer lange Strecke führt von Saint-Etienne ins nordwestlich gelegene Andrézieux. Fünfeinhalb Jahre später wird die 57 Kilometer lange Verbindung zwischen Saint-Etienne und Lyon eingerichtet. Während man in Zentralfrankreich, im Süden und im Elsass auf die Eisenbahn setzt, bewegen sich die Pariser noch immer in Kutschen. Ihre Ware transportieren sie auf Kanälen.
Jede Gesellschaft hat ihren eigenen Bahnhof
Erst am 26. August 1837 erhält die Hauptstadt die erste Zugverbindung. Die 19 Kilometer lange Strecke reicht von Paris ins westlich gelegene Saint-Germain-en-Laye. Schon in den ersten zwei Jahren werden über eine Million Passagiere befördert. Jetzt erwacht auch die Hauptstadt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Paris zur Stadt der grossen Bahnhöfe.
Bis zum Zweiten Weltkrieg gibt es in Frankreich keine gesamtfranzösische Eisenbahngesellschaft. Einzelne private Unternehmen bedienen und bewirtschaften einzelne Landesteile. Jede dieser privaten Gesellschaften unterhält in Paris ihren eigenen Bahnhof.
Der „Gare de l’Est“ – lange Zeit der Bahnhof der Schweizer
Der erste grosse Pariser Bahnhof ist der „Gare de l’Est“. Er gehört der „Compagnie de l’Est“, die 1854 gegründet wird. Sie betreibt lange Zeit eine Art „Kriegs-Eisenbahn“. Während des preussisch-französischen Krieges 1870/71 – und später auch während des 1. Weltkrieges - werden hier Soldaten, Kriegsmaterial und Pferde transportiert, auch Verwundete und Tote. Die „Compagnie de l’Est“ ist es, die über Jahrzehnte den Zugverkehr zwischen Paris und der Schweiz abwickelt. Auf der Strecke dieser Gesellschaft verkehren bis zum 11. Dezember 2011 die meisten Züge zwischen Paris und Basel. Der zweite grosse Pariser Bahnhof ist der „Gare du Nord“. Die „Compagnie du Nord“, die ganz Nordfrankreich, Belgien und die Niederlande bedient, ist schnell ein wirtschaftlicher Erfolg. Neben langen, schweren Zügen, die Kohle und Stahl transportieren, betreibt die Gesellschaft schnelle Touristenzüge. Damit werden Reisende an die Nordseeküste gefahren. Berühmt ist der „Etoile du Nord“, der mit 130 Kilometern pro Stunde von Paris über Brüssel nach Amsterdam rast. 1851 entsteht eine dritte Gesellschaft: die unglückliche „Compagnie de l’Ouest“. Von den Pariser Bahnhöfen Saint-Lazare, Montparnasse und dem Gare des Invalides bedient sie die Bretagne und die Normandie. Da sie auch viele kleine, unrentable Linien betreibt, gerät sie schnell in finanzielle Nöte.
Die Gesellschaft der Könige und Prinzessinnen
Das heute wichtigste Streckennetz beginnt sich nur zögerlich zu entwickeln. Im Süden, im Zentralmassiv und im Westen gibt es bereits kleinere Gesellschaften, die sich nach und nach zusammenschliessen. Draus entsteht das jüngste Unternehmen: die PLM, die „Paris-Lyon-Méditerranée“. Ihre Züge fahren ans Mittelmeer, in den französischen Jura, in die französischen Alpen, ins Zentralmassiv und nach Bordeaux. Mit der PLM fährt man auch von Paris nach Genf.
Jede Gesellschaft hat ihre eigene Kultur, ihren eigenen Esprit. Jene des Nordens gilt als versnobt, weil sie reiche Engländer transportiert. Jene des Ostens scheint „militarisiert“ zu sein. Den schlechtesten Ruf hat die Gesellschaft des Westens mit ihren finanziellen Problemen und ihren Verspätungen. Die PML gilt zunächst als „katholisch und ländlich“, da sie anfangs vor allem das Zentralmassiv bedient. Doch das sollte sich schnell ändern: Bald ist sie die Gesellschaft der Könige, Prinzen und Prinzessinnen.
Die letzten zwanzig Jahre des 19. Jahrhunderts sind für die PLM goldene Jahre. Die Reichen und Schönen zieht es an die Côte d’Azur und in die Alpen. Das Geld sprudelt. Doch der Pariser Bahnhof, von dem aus die Züge verkehren, ist schäbig.
Der damalige „Gare de Lyon“ besitzt nur fünf Geleise. Der Haupteingang liegt in einer Nebenstrasse und führt nicht – wie heute – auf das Boulevard Diderot. Das alles passt nicht zur betuchten Clientèle, die sich hier zeigen möchte. Zudem platzt der Bahnhof aus allen Nähten. 1880 verreisen hier 1,6 Millionen Menschen, 1896 sind es doppelt so viele.
Ein Big Ben – den Engländern zuliebe
Jetzt bereitet sich Paris auf die Weltausstellung von 1900 vor. Überall wird gebaut. Die PLM ergreift die Gelegenheit und offeriert sich einen neuen „Gare de Lyon“ – einen stolzen Prunkbau im Belle-Epoque-Stil. Zuerst will man einen Bahnhof auf zwei Ebenen bauen. Doch das erweist sich als allzu kompliziert. Jetzt führen 13 Geleise in die Bahnhofhalle hinein.
Sieben Haupteingänge gehen nun auf das Boulevard Diderot. Über dem Bahnhofgebäude thront ein 64 Meter hoher Glockenturm. Er besitzt vier Zifferblätter, die einen Durchmesser von 6 Meter 40 haben. Der Turm ist eine Kopie des Londoner Big Ben, des Glockenturms des britischen Parlaments. Er soll dazu beitragen, dass die ankommenden britischen Touristen sich heimisch fühlen.
Auch nach der Weltausstellung hat die PLM Erfolg. Vor allem der Verkehr in die Berge und an die Côte entwickelt sich rasend. Transportiert werden auch jene, die sich in Marseille nach Nordafrika einschiffen wollen. Eine Werbung verspricht damals, dass man in 37 Stunden von Paris nach Nordafrika gelangt. 1930 verfügt die PML über ein Streckennetz von 10‘000 Kilometern.
“Le Train bleu“
Alle grossen Pariser Bahnhöfe sind inzwischen erweitert und modernisiert worden. Überall entstehen Bahnhofstädte in den Städten. Riesige Einkaufszentren werden in den Bahnhöfen erstellt. So auch im „Gare de Lyon“. Wer von Basel oder Zürich hier ankommt, ist zunächst enttäuscht. Der TGV hält in einem Nebenbahnhof. Doch von dort sind es nur wenige Fussminuten in die altehrwürdige Halle. Zurzeit werden zwei riesige Glastempel neben dem Hauptgebäude errichtet. Hier entstehen Shoppingcenters, Restaurants und Imbissbuden. Doch all das ist nichts im Vergleich zum alten Restaurant, das sich im Hauptgebäude befindet.
Dieses wird am 7. April 1901 von Staatspräsident Emile Loubet eingeweiht. Schon kurz nach der Eröffnung lassen sich hier die Reichen noch schnell verwöhnen, bevor sie den Luxus-Zug in den Süden nehmen: nach Nizza, Cannes, Antibes oder Cap Ferrat.
Zunächst heisst das Restaurant „Buffet de la Gare de Lyon“ – Bahnhofbuffet. Erst 1963 wird es umbenannt. Jetzt heisst es „Le Train bleu“ – in Anlehnung an den sagenumwobenen Luxus-Zug, der Calais mit Ventimiglia verband. Den Namen erhielt der Zug wegen des blauen Wassers der Côte und der blauen Farbe der Schlafwagen.
„Der blaue Zug“ ist ein Museum. Skulpturen, riesige Gemälde und vergoldete Fresken erdrücken die Gäste fast. André Malraux, der damalige Kulturminister, hat das Restaurant 1972 zum „Historischen Monument“ geadelt. In Tourismus-Prospekten wird der Ort als „das schönstes Restaurant der Welt“ bezeichnet – vielleicht nicht ganz zu Unrecht.
Eine Flasche Wein für 1300 Euro
Die 41 Gemälde werden zur Eröffnung vor 110 Jahren gemalt. Sie zeigen Städte und Landschaften, die die Züge der PLM ansteuern oder durchfahren. Jeder Maler stammt aus der Gegend, die „sein“ Gemälde abbildet. Da ist die Blumenschlacht von Nizza zu sehen, der alte Hafen von Marseille, Villefranche, Monaco und der Montblanc. Lange Zeit wirken die Malereien dumpf. Der Dampf der Dampflokomotiven hat sie verschmutzt. Inzwischen wurden sie gesäubert. Auf einem der Gemälde ist auch die legendäre französische Tänzerin Sarah Bernhardt abgebildet. Sie war Stammgast hier. Jetzt bietet das Restaurant ein „Menu Sarah Bernhardt“ an, für 68 Euro: „Escalope de foie gras poêlée, boudin blanc und duxelle de cèpes en millefeuille“. Hauptspeise ist ein Cabillaud rôti.
Die Weinkarte ist üppig. Sie reicht bis zu einem Margaux 1er Cru Château Margaux 1980: Preis: 1200 Euro. „Wir verkaufen ihn zwei, drei Mal die Woche“, sagt der Kellner. „Auch an Deutschschweizer?“ - „Das darf ich nicht sagen“.