Kaum etwas sorgt in den Medien mehr für die Erwärmung des Meinungsklimas als Dissens unter Wissenschaftern. Das führt unter Umständen zu erheblichen Wahrnehmungsverzerrungen.
Zwei Studien aus dem Jahre 2004 dokumentieren sie. Die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes fand unter 928 Fachpublikationen zum Thema nicht eine einzige, welche die anthropogene Verursachung bezweifelte – höchstens das Ausmass. Es herrscht also in Fachkreisen ein markanter Konsens. Eine andere Studie, von Jules und Maxwell Boykoff, stellte fest, dass Meinungen von wissenschaftlichen Abweichlern und Neinsagern in 337 von 636 Zeitungsartikeln Aufmerksamkeit fanden. Kann es verwundern, dass George W. Bush die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls mit den Worten verweigern konnte: „There’s a debate over whether its manmade or naturally caused.“ – Die Debatte gab es, aber nicht in Wissenschafterkreisen, sondern in den Medien. Nimmt man die Wissenschafter überhaupt wahr und ernst?
Die Natur ist nicht Schiedsrichterin
Die komplexe Klimadebatte lässt sich nicht definitiv wissenschaftlich beenden. Als typisches Symptom einer solchen unabgeschlossenen Lage werden dann häufig gegenseitige Beschuldigungen laut, man sei von ausserwissenschaftlichen Interessen geleitetet. So warf etwa der polnische Klimaforscher Zbigniew Jaworowski unter dem Titel „The Greatest Scientific Scandal“ den Forschern des internationalen Klimarats IPCC (Intergovernmental Panel of Climate Change) vor, sich von der Uno politisch instrumentalisieren zu lassen, einem Regime von „grünen Fanatikern“: „First the politics, then the science“.
Jaworowski scheint implizit das Umgekehrte zu favorisieren: First the science, then the politics. Aber das ist naiv. Die Behauptung, dass „nicht der Mensch, sondern die Natur das Klima regiert“, klingt zwar einleuchtend, aber sie verdeckt den komplizierten Charakter der Forschungspraxis.
Was heisst: Die Natur regiert das Klima? Es heisst, dass die Forscher bestimmte Theorien mit hypothetischen Kausalzusammenhängen entwickeln wie zum Beispiel: Das klimatische System reguliert sich bei Störungen selbst; es ist von Humaneinflüssen – nahezu – unabhängig. Falls die Daten für eine solche Hypothesen sprechen, ist dies ein gutes Argument für die Entwarner.
Nur sind klimatische Systeme in der Regel hochkomplex, und Daten „sprechen“ nicht, sondern Experten; dabei interpretieren und gewichten die Experten Daten (und Ungewissheiten) oft unterschiedlich. Das gehört zu den Trivia der Wissenschaftspraxis und ist solange in Ordnung, als man der Öffentlichkeit nicht weiszumachen sucht, die „Natur selbst“ sei Schiedrichterin in wissenschaftlichen Debatten. Genau dann wird man zum Bauchredner, welcher der Natur trügerischerweise seine eigene Stimme gibt.
Falsches Bild der Wissenschaft
Die Klimawissenschaft ist – mit einem Begriff des Wissenschaftshistorikers Thomas Kuhn gesprochen – „nicht-normale“ Forschung; das heisst, es gibt in ihr gewöhnlich mehr als eine Stimme, mehr als eine Sicht der Dinge. Das kann in der öffentlichen Wahrnehmung leicht falsch interpretiert werden. Denn was „die“ Wissenschaft sagt, gilt unter Laien und politischen Entscheidungsträgern oft nicht nur als Diktum der Objektivität, sondern auch des Handlungszwangs (die Fakten „diktieren“ es).
Im Jahre 2009 publizierte beispielsweise das Hadley Center des britischen Wetterdienstes eine Broschüre, in der gleich zu Beginn verkündet wird, dass die Wissenschaft „allen, die immer noch zweifeln, eine eindeutige und unparteiische Antwort (liefert). Sie ist es letztlich, die uns in der Begegnung mit den kommenden Herausforderungen leiten wird.“ Oder am Klimagipfel 2009 in Kopenhagen wurde festgehalten: „Wir werden die wissenschaftliche Sicht anerkennen, dass die Erhöhung der globalen Temperatur unter 2 Grad Celsius bleiben soll.“
Man beachte: Wissenschaft ist neutral und eindeutig und sie sagt uns, was wir tun sollen. – Das ist so ziemlich das falscheste Bild, das man sich von ihr machen kann. Und dieses Bild gehört mit zum Klimaproblem; es ist gespickt mit Paradoxien.
Das Konsens-Dissens-Dilemma
Eine erste Paradoxie liegt darin, dass politische Versprechen, die auf die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft bauen, diese Glaubwürdigkeit unterminieren können. Sie wecken hohe Erwartungen, und wenn diese enttäuscht werden, entsteht ein typisches Dilemma, das Konsens-Dissens-Dilemma.
In der ZEIT vom 25.7.1997 verglich der Klimaskeptiker Dirk Maxeiner die IPPC-Berichte von 1990 und 1995: „1990 galt eine Erwärmung um 2 Grad als vergleichsweise erstrebenswert. Für dieses (...) seien drastische Massnahmen erforderlich: der vollständige Übergang von Kohle auf Erdgas, der Stopp jeglicher Abholzung sowie eine Halbierung des Kohlendioxid-Ausstosses. Fünf Jahre später prognostizieren die Fachleute das gleiche Ergebnis für den Fall, dass die Menschheit weiterwurstelt wie bisher.“
In der gleichen Zeitung stand, geschrieben vom Wissenschaftsjournalisten Hans Schuh, vier Monate später: „Aussagen werden nicht dadurch besser, dass Hunderte ins gleiche Horn blasen, auch wenn viele Modellierer der Klimakatastrophe dies meinen (...) Das ptolemäische Weltbild, wonach die Sonne um die Erde kreist, war jahrhundertelang Konsens und dennoch falsch.“ Der eine sagt: Traut den Wissenschaftern nicht, denn unter ihnen herrscht Dissens; und der andere sagt: Traut ihnen erst recht nicht, denn es herrscht Konsens. Welchen anderen Schluss soll ein interessierter Laie aus dieser Konfusion ziehen, wenn nicht: Traut den Wissenschaftern überhaupt nicht?
Das Dilemma der gegenseitigen Annullierung
Es gibt ein ähnliches Dilemma, das die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit gefährdet. Man kann es das Dilemma der gegenseitigen Annullierung nennen: Expertenurteile heben sich gegenseitig auf. Klimaforschung oder generell Ökologie studiert – wie etwa auch Ökonomie, Medizin oder Soziologie – ein hochkomplexes Objekt. Es gibt stets konkurrierende Ansichten.
Aber Wissenschaft gilt als Quelle verlässlicher Information. Deshalb suchen Kontrahenten in einer gesellschaftlichen und politischen Debatte sie als Unterstützerin ihrer Interessen zu gewinnen. Was aber im schlimmsten Fall zu Folge haben kann, dass die wissenschaftlichen Positionen der Kontroverse sich gegenseitig neutralisieren und dadurch umso mehr den politischen und ökonomischen Interessevertretern das Sagen überlassen, das sie auch ohne Wissenschaft hätten.
Der Philosoph Philip Kitcher karikiert dies einmal als das „Actio-Reactio-Prinzip“ der wissenschaftlichen Stellungnahme: Zu jeder Expertise gibt es eine gleich starke Gegenexpertise, so dass sie sich in summa aufheben. Wie man aus der Logik weiss, kann man aus einer Behauptung und ihrer Negation Beliebiges schliessen und legitimieren. Ergo könnte man auf Wissenschaft gleich von vornherein verzichten...
Das Mehr-Forschung-Dilemma
Das spricht nicht – um spätestens hier einem Missverständnis vorzubeugen – gegen die wissenschaftliche Stellungnahme, sondern nur gegen die Idee, Wissenschaft könne politische Uneinigkeiten wie die Klimakrise lösen. Natürlich ist es wünschenswert, den Zusammenhang zwischen Kohlendioxidausstoss und globaler Erwärmung möglichst detailgenau zu kennen. Und am Klimawandel sind auch andere Faktoren als der Kohlendioxidausstoss beteiligt. Dazu ist mehr Forschung nötig.
Aber zugleich verschärft mehr Forschung die Debatte. Dies ein drittes Paradox. Daniel Sarewitz, Ko-Direktor des Konsortiums für Wissenschaft, Politik und Folgen an der University of Arizona, schreibt dazu: „Wenn das aufrührerisch antirational erscheint, dann betrachte man die jüngere Umweltgeschichte in den 1960er und 1970er Jahren. Der Kongress beschloss eine eindrückliche Menge von Gesetzen über Wasserqualität, bedrohte Arten, Verwendung von Pestiziden, Abfallentsorgung (...) Der wissenschaftliche Sachstand war – verglichen mit heute – primitiv. Aber das politische Klima war günstig und viele Probleme – Smog, brennende Flüsse – waren für alle offensichtlich genug (...) Vier Jahrzehnte später hat sich das wissenschaftliche Verständnis in der Ökologie unermesslich entwickelt, während die politische Aktion nahezu unmöglich geworden ist. Mehr Wissen hat mehr Unsicherheit darüber geschaffen, was läuft und was nicht, was überhaupt ein Problem ist und was nicht, und diese Unsicherheit munitioniert die konkurrierenden Positionen in Streitfragen vom Artenschutz bis zur Entsorgung giftiger Chemieabfälle.“
Von genau dieser Unsicherheit zehren nota bene die Lobbyisten, Spindoctors und Deckmantel-Wissenschafter („stealth issue advocates“: Leute, die unter wissenschaftlichem Vorwand politische oder unternehmerische Interessen vertreten).
Der vigilante Wissenschafter
Was also können und sollen die Wissenschafter tun: Sich aus der Politik heraushalten? Das ist heute auf „heissen“ Gebieten wie der Klimatologie gar nicht mehr möglich, weil wissenschaftliche und politische Probleme untrennbar miteinander verquickt sind. Der französische Wissenschaftssoziologe Bruno Latour spricht von „hybriden“ Verhältnissen, von solchen also, welche die säuberliche Trennung zwischen menschlicher und natürlichr Verursachung nicht mehr zulassen. Natur wird immer mehr zur menschlich überformten Natur. Naturkatastrophen sind so gesehen „hybride“ Ereignisse, und mit derartigen Ereignissen werden wir es in Zukunft wohl vermehrt zu tun bekommen.
Ob explizit oder implizit, der Klimawissenschafter vertritt immer auch bestimmte Werte und bekennt sich zu einer politischen Agenda. Auch er ist also „hybrid“. Am besten sieht man in ihm einen neuen Typus neben dem „reinen“, dem anwendungsorientierten und dem entrepreunialen Wissenschafter: den vigilanten Wissenschafter.
Er ist wach in mindestens dreierlei Hinsicht. Erstens wach gegenüber den Erkennnisansprüchen und Voreingenommenheiten seiner Disziplin: er masst sich also nicht an, im Namen der Objektivität eine Klimakatastrophe zu prognostizieren.
Zweitens wach gegenüber den Verdrehungen von externen Interessegruppen: er tritt ihnen dezidiert entgegen, wenn sie aus einem Dissens oder Konsens eine allgemeine Glaubwürdigkeitskrise flickschustern.
Und drittens wach gegenüber dem Informationsstand und –bedürfnis der Laien: er sucht, wann und wo immer möglich, die Wissenschaft auf eine Weise zu vermitteln, die nicht auf Handlungszwänge, sondern auf Handlungsoptionen abzielt.
Wir leben in einem Zeitalter des Uneindeutigen, das – viertes Paradox – unmso höhere Eindeutigkeitansprüche an die Politik stellt: Tut doch endlich mal dies, tut mal das! Den Klimawandel zu leugnen, ist kaum noch eine Strategie. Deshalb redet man ihn harmlos oder unterstellt Einschüchterungsabsichten. In einem solchen Meinungsbasar muss sich die Wissenschaft ihre Glaubwürdigkeit nicht nur über die Objektivität ihrer Resultate verschaffen, sondern vermehrt über die Transparenz ihrer Unsicherheiten und Uneinigkeiten. Dazu braucht sie aber auch den wachen Bürger, der von ihr nicht das Unmögliche erwartet, und ihr daraufhin das Mögliche abspricht.