Ist es nicht zu spät für einen Angriff auf die Kirchen? Wird ihnen dadurch nicht eine Bedeutung zugemessen, die sie de facto schon längst verloren haben? Küppers sieht das anders. Für ihn sind sie allzu lebendig und mächtig. Ihre Denkmuster sind immer noch an zahllosen Stellen der Gesellschaft wirksam. Wenn er sich auf die Kirchen einschiesst, dann hat er zahlreiche Ziele gleich mit im Visier.
Der Titel, Wissen statt Moral, macht die Front klar. Küppers steht auf der Seite der modernen Wissenschaft. Zu ihr gehört der Zweifel als Prinzip des Fortschritts. Deswegen gibt es keine absolute Wahrheit, sondern nur Erkenntnisse, die so lange Gültigkeit besitzen, bis sie durch andere ersetzt werden. Küppers bezieht sich auf Arthur Koestler, der davon gesprochen hat, dass der Weg des wissenschaftlichen Fortschritts von den Skeletten falsifizierter Theorien gesäumt ist.
Der Papst und seine Hilfstruppen
Die andere Seite, die der zahlreichen Gegner, wird durch Absolutheitsansprüche markiert. Der Papst mit seinem Anspruch auf Unfehlbarkeit steht ganz vorn, aber er ist nur einer von vielen. Gleich neben ihm steht der Sozialphilosoph Jürgen Habermas, der mit seiner Theorie der Wahrheit, die sich im „herrschaftsfreien Diskurs“ offenbaren soll, nicht nur die Orientierung suchende Linke, sondern – spät zwar, aber immerhin – auch den Papst für sich eingenommen hat. Herrschaftsfreier Diskurs und kirchliche Dogmen wie die Jungfrauengeburt haben für Küppers den gleichen Realitätsgehalt.
Nun wären die beiden für sich genommen nicht sonderlich eindrucksvoll, wenn sie nicht inmitten zahlreicher Hilfstruppen stünden. In Küppers Augen handelt es sich dabei um eine Art Lumpenproletariat, das sich geistig von dem nährt, was man früher als Volksaberglauben bezeichnet hat: Esoterik, Naturheilkunde, Astrologie und dergleichen mehr.
Ein neuer Kulturkampf
Das Band, das sie alle eint, ist die Ablehnung der modernen Wissenschaft mit ihrem „Relativismus“ und der Glaube an absolute Wahrheiten, wie sie schon Platon gelehrt hat. Sie lassen sich durch wissenschaftliche Experimente nicht widerlegen. Zwischen dem Papst, dem Sozio-Guru Habermas und einer Kartenlegerin bestehen für Küppers im Prinzip keine Unterschiede. Deswegen bräuchte man sich über sie aber auch nicht aufzuregen. Küppers regt sich über sie aber auf und fordert einen neuen „Kulturkampf“, weil das Denken in absoluten Wahrheiten in seinen Augen eine Moral zur Folge hat, die den wissenschaftlichen Fortschritt behindert.
Das ist der Punkt. Küppers ist der Meinung, dass die auch von ihm nicht geleugneten Probleme, die mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und ihrer Umsetzung in medizinische oder technische Verfahren in die Welt kommen, nicht mit – moralischen – Verboten zu lösen sind, sondern nur durch vertieftes neues Wissen. Und er sieht die Gefahr, dass dieser Weg mit den Absolutheitsansprüchen der moralisierenden Gegner verbaut wird.
Religiöse und säkulare Regression
Über weite Strecken ist das Buch sehr polemisch gefasst und wirkt auch holzschnittartig. So ist der scharfe Gegensatz, den Küppers zwischen den Kirchen und den modernen Naturwissenschaften sieht, in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder durch Diskussionen auf sehr hohem Niveau stark relativiert worden. Auch der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat diesen Gegensatz für sich auflösen können. Küppers weiss das selbstverständlich. Schliesslich war es Weizsäcker, der für das naturwissenschaftliche Grundlagenwerk von Küppers mit dem Titel, „Der Ursprung biologischer Information“ (1986), das Vorwort geschrieben hat.
Warum der Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit differenzierteren Positionen? Die Antwort, die sich aufdrängt, ist eben so ernüchternd wie alarmierend: Weil differenziertere Positionen heute keine Rolle mehr spielen. Mit Recht spiesst Küppers den Kreationismus – den biblischen Schöpfungsglauben - in den USA auf, der dort in manchen Schulen bereits als Alternative zur wissenschaftlichen Sicht auf die Weltentstehung gelehrt wird. Ein ähnliches Ansinnen konnte im Oktober 2007 von der parlamentarischen Versammlung des Europarats mit knapper Mehrheit abgewiesen werden. Zugespitzt kann man sagen: Teile der Kirchen oder Religionsgemeinschaften befinden sich ebenso in einer Regression, wie wir sie auch am Erstarken nationalistischer, populistischer oder rechtsradikaler Bewegungen erkennen müssen.
Auf der einen Seite ist es einfach, einen holzschnittartig stilisierten Gegner aufs Korn zu nehmen, auf der anderen Seite stellt sich die Frage, was damit bezweckt werden soll. Will Küppers den Papst für die Embryonenforschung gewinnen? Das wohl nicht, aber er stellt fünf Thesen vor, die seiner Ansicht nach die Leitlinien für diejenigen abgeben können, die wie er am wissenschaftlich geprägten Fortschritt der Gesellschaft mitwirken.
Die Theorie der Randbedingungen
Diese Thesen betreffen die (1) Bekämpfung der Tendenz zur „Selbstverdummung“ durch Pseudowissen, (2) die Stärkung der Urteilsfähigkeit, (3) die Bejahung der Relativität wissenschaftlicher Erkenntnisse und der damit verbundenen Entwicklungsdynamik, (4) die Erkenntnis, dass der Mensch und nicht die Natur das Mass aller Dinge ist und (5) die Forderung, das Wissen mit Mitteln des Wissens und nicht mit moralisch motivierten Verboten zu kontrollieren.
Diese Thesen sind im Prinzip nicht neu, und erst am Ende des Buches deutet Küppers eine Denkrichtung an, die auch für das Verständnis der Moral interessant sein kann. Küppers ist von Haus aus Physiker und hat, bevor er Professor für Naturphilosophie an der Universität Jena wurde, 25 Jahre mit dem Nobelpreisträger Manfred Eigen am Max Planck Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen gearbeitet. In dieser Zeit entwickelte er ein neues naturwissenschaftliches Verständnis der Prozesse, die das Leben hervorbringen.
Es handelt sich dabei um die Theorie der „Randbedingungen“, für die er den Begriff „Peranetik“ geprägt hat. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass die Naturgesetze an sich zeitlos sind, ihre Wirkungen aber immer in Raum und Zeit an und in konkreten Objekten entfalten. Das Zustandekommen dieser Objekte oder der jeweiligen Konstellationen sind die Randbedingungen. Bildlich und grob vereinfacht: In jedem Menschen laufen die gleichen biophysikalischen Gesetze ab, aber je nach erblicher Ausstattung und den Lebensumständen entstehen daraus unterschiedlichste Resultate. Wir nennen das Geschichte und Individualität.
Exponentielle Vermehrung des Wissens
Angewendet auf die Moral bedeutet dieser Gedanke, dass sich unter verschiedenen Randbedingungen unterschiedlichste Schlussfolgerungen ergeben können, gleichwohl aber dieselben moralischen Schemata wie Gut und Böse oder Achtung und Nichtachtung verwendet werden. Dieser Gedanke erklärt die Tatsache, dass im Namen der Moral in unterschiedlichen Kulturen, Zeiten oder Umständen wie Krieg und Frieden die gegensätzlichsten Handlungen möglich sind.
Küppers Plädoyer, Moral mittels des Wissens zu neutralisieren, stösst auf ein Problem im Wissen selbst. Denn das Wissen ist nicht nur relativ, sonder vermehrt sich exponentiell. Niemand kann es überschauen und entsprechend nutzen. Küppers plädiert daher für „Strukturwissenschaften“, die als eigene Disziplin das Wissen erschliessen und zu einer neuen „Wissenstechnologie“ führen.
Das Buch von Bernd-Olaf Küppers wird zu heftigen Diskussionen führen. Mit seiner Parteinahme und Frontstellung wird er unter Naturwissenschaftlern mehr Anhänger finden als unter den Geisteswissenschaftlern.
Bernd-Olaf Küppers, Wissen statt Moral. Fünf Thesen zur Wissensgesellschaft, Fackelträger Verlag Köln, 2010