Unendlich viele Wirklichkeiten von Menschen vor und hinter den Kameras begegnen einem in jedem Bruchteil der 368 Dokumentar- und Animationsfilme, die dieses Jahr gezeigt worden sind.
Die Frage nach der Wirklichkeit des Gefilmten ist mit dem Dokumentarfilm geboren – erst mit dem Dokumentarfilm? Stellte sie sich nicht bereits im 19. Jahrhundert, mit der Physiologie der Sinnen, der Entdeckung von UV- und Infrarotstrahlen und der Fotographie? Oder ist sie gegeben mit der menschlichen Sprachlichkeit überhaupt?
Verschärft hat sie sich der Zweifel an der Wirklichkeit des im Dokumentarfilm Geschauten und Gezeigten mit zunehmender Reflexion des Films auf sich selbst, mit seiner Historizität, professionalisiert mit der Etablierung der Medienwissenschaften. Es ist in den letzten Jahrzehnten deutlich vermittelt worden, dass auch die subjektive Wirklichkeit der Dokumentierenden ihre Aufnahmen mitgestaltet – sichtbar bereits in der Wahl ihres Objekts, im gewählten Ausschnitt, in der Art des Lichts, in ihrem Blickwinkel. Deshalb wurde das 1969 gegründete Festival „Dokumentarfilme in Nyon“ 1995 in „Visions du Réel“ umgetauft.
Zweifel an der Realität des Wahrgeommenen
„Wirklichkeit? welche Wirklichkeit’“ ist auch der Titel einer hommage, mit welcher das diesjährige DOK-Leipzig den Dänen Jon Bang Carlsen geehrt hat. Bang Carlsen (* 1950) hat ab 1971 an der Nationalen Filmschule in Kopenhagen studiert und gleichzeitig in der Theatergruppe „Solvognen“ der Kopenhagener Freistadt Christiania mitgearbeitet.
Bang zweifelt grundsätzlich an der Realität des Wahrgenommenen. Die Realität komme immer maskiert daher, zuweilen auch in Gestalt einer imaginierten Zukunft, lehrte er in seiner „Meisterklasse“ für Fachleute, und er als Filmer wolle nicht von ihr gekidnappt werden. Er versuche ihr näher zu kommen, versuche, ins Bild zu bringen, was er in gegebenen Momenten empfinde. Es gehe darum, mit allen Sinnen in sich aufzunehmen, was einem begegne und diese erlebte Wirklichkeit dann in der Aussenwelt wiederzufinden – und zu zeigen. Ähnlich arbeitet er mit den Menschen, die in seinen Filmen auftreten. Sie sollen sich so zeigen, wie es sowohl zu ihnen als auch zu seinem jeweiligen Projekt passt. Er suche immer nach der Landschaft, in welcher er und seine Protagonisten sich gemeinsam bewegen könnten. 1996 hat Bang diese Art des Filmens in “How to Invent Reality?“ („At opfinde virkeligheden“, Dänemark) dargestellt. Damit ist er ein Repräsentant der „staged reality“ im Dokumentarfilm, ähnlich wie Ulrich Seidl, zu dessen Arbeitsweise „Ulrich Seidl und die bösen Buben“ zu sehen war („Ulrich Seidl – A Director at Work“, Constantin Wulff, Österreich, Deutschland, Schweiz 2014).
Sehr eindrücklich ist Bang Carlsens Arbeitsweise in „Purity Beats Everything“ (Dänemark 2007) zu verfolgen. Dieser Film, kommentiert Bang, sei sein dokumentarischster. Er enthält die Erzählung einer Holocaust-Überlebenden, die in Südafrika eine neue Heimat und ein neues Heim gefunden hat. Während sie erzählt, realisiert der Filmer und zeigt es im Film, wie ihre Vergangenheit in der Gegenwart, auch in seiner eigenen, Gestalt annimmt, wie die Sonne über Auschwitz, auch der schwarze Rauch über dem KZ im Südafrika ihrer Gegenwart wiederkehrt, und er zeigt seinem Publikum zwangslos, wie im Licht der Erinnerungen dieser Frau etwa Wäscheklammern im Wind marschierenden Stiefeln gleichen und eine harmlose Katze den Ausdruck einer Mörderin annehmen kann.
Die perfekt gestylte alte Dame, die ihm gegenüber sitzt, scheint das nicht so zu sehen. Und als er den Vergleich zwischen dem Rassismus der Nazis und demjenigen der Weissen in Südafrika zieht, weist sie ihn aussergewöhnlich scharf zurecht: „never ever“ soll er das wiederholen. Bang insistiert nicht weiter. Aber er schafft es, die Starrheit der Narratio einer Traumatisierten ins Bild zu bringen: während er berichtet, dass seine Protagonistin eine bestimmte Episode aus ihrer Vergangenheit ein zweites Mal sozusagen wörtlich wiederholt, lässt er ihr Gesicht seine Farbe verlieren, es wird schwarz-weiss und bewegungslos.
Film und Überzeugung, Film und Propaganda - macht Macht Wirklichkeit?
Wie wirklich ist die Macht? „La réalité, c’est ce que l’on croit,“ sagte in den 1920er Jahren der Philosoph und Psychologe Pierre Janet, ein halbes Jahrhundert später schrieb Paul Virilio, in Kriegen gehe es weniger um Geld und Territorien als um Wahrnehmungen. Lässt sich also Macht als die Fähigkeit verstehen, anderen eine bestimmte Sichtweise aufzuzwingen, auch zum Beispiel durch das Medium Film? Nazideutschland hat den Propagandafilm eingesetzt, ebenso die kommunistischen Staaten, und die diesjährige Sonderreihe Animationsfilm „Zum Kaufen animiert – die Faszination von Werbung“ erinnerte an das alltägliche Propagandabombardement der Konsumgesellschaft.
„Night will Fall – Hitchcocks Lehrfilm für die Deutschen“ („Night will Fall“, André Singer, Vereinigtes Königreich, Israel, USA 2014) bezeugt, wie bei Kriegsende 1945 Kameras als Waffen eingesetzt wurden. Sie sollten den Fortschritt der siegreichen Aliierten dokumentieren und nach der Befreiung der Konzentrationslager den Horror, den man dort vorfand. Diese Dokumentation war Teil der psychologischen Kriegsführung der USA. Der Verantwortliche Sidney Bernstein holte Hitchcock, den Meister des Horrors, um das Material zu einem Film zu verarbeiten – so entstand Alfred Hitchcocks einzige dokumentarische Arbeit. Die kam dann aber nicht an die Öffentlichkeit – nach Kriegsende schien dies den Auftraggebern doch wieder nicht opportun, denn man wollte nun Deutschland wiederaufbauen, seine Moral wiederherstellen und fasste die Deutschen als allfällige Verbündete gegenüber Russland ins Auge. So verschwand der 1945 fertiggestellte Film in die Archive, nur Splitter davon zirkulierten an den verschiedensten Orten, ausserdem eine spätere Kurzfassung von Billy Wilder. Singers Film bringt einiges Licht in diese Vorgänge. Zudem enthält er die Aussagen vieler noch lebender Zeitzeugen. Einer von ihnen berichtet, wie eine Szene mit ihm später nachgestellt worden sei – im Sinn des ‘staged documentary’, aber so sei es auch wirklich gewesen; einem anderen erschien, was im geöffneten KZ zu sehen war, als vollkommen irreal und die aufgefundenen Toten als Puppen – hätte er all das für wahr genommen, wäre er wohl verrückt geworden.
Edward Snowden – die neue Wirklichkeit
Zur Eröffnung des diesjährigen Festivals wurde „CITIZENFOUR“ gezeigt, der letzte Teil von Laura Poitras’ post-9/11-„New American Century“-Trilogie (USA/D 2014). Als „CITIZENFOUR“ hat sich der Whistleblower Edward Joseph Snowden bei der vielfach preisgekrönten US-amerikanischen Filmerin gemeldet. Auf ihre Frage, wieso er gerade sie ausgewählt habe, antwortete er, sie habe sich selbst ausgewählt, ihre Filme zu 9/11 und Guantanamo hätten die britischen und US-amerikanischen Geheimdienste auf sie aufmerksam gemacht, und genauso ihn selbst. Poitras konnte zur Eröffnung noch nicht zugegen sein, „CITIZENFOUR “ hatte gerade zwei Wochen zuvor in den USA seine Weltpremière gehabt. Hingegen erhielt das Leipziger Publikum eine Videobotschaft des Protagonisten selbst – er freue sich über die Aufführung dieses Films gerade in der Stadt, in welcher 1989 die gewaltlose Revolution gegen einen Überwachungsstaat ihren Ausgang genommen habe. In kurzen Worten erinnerte er daran, dass die Legitimität demokratisch gewählter Regierungen von der Zustimmung der Menschen abgeleitet werde, die sie gewählt haben. Die Zustimmung zu einer Regierung habe jedoch nur dann Bedeutung, wenn sie auf Information beruhe.
Die Filmerin Laura Poitras ist in der Leipziger Nicolaikirche mit dem Filmpreis der „Stiftung Friedliche Revolution“, dem „Leipziger Ring“ ausgezeichnet worden. Als Motto zu ihrem neuen Film zitiert sie Benjamin Franklin: Wer die Freiheit für die Sicherheit aufgibt, wird schliesslich beides verlieren.
Im Januar 2013 war Poitras von dem noch völlig unbekannten Snowden – Citizen four – per Internet kontaktiert worden. Gemeinsam mit dem Guardian-Journalisten Glenn Green veröffentlichte sie im Juni das brisante Material des Whistleblowers und kurz darauf auch Interviews mit ihm. Manche Informationen tauschten sie nur auf Notizzetteln aus, die dann gleich vernichtet wurden. Poitras’ Film begleitet Snowdens Heraustreten aus der Anonymität, dokumentiert verschiedene Reaktionen auf seine Enthüllungen, weist auf die Mechanik der Ausschaltung demokratischer Rechte hin, auf die qualitativ neuen Überwachungsmöglichkeiten der Big Data-Generation, auf die unerhörte Zahl von Kandidaten für Drohnenangriffe und viel anderes mehr.
Poitras hat „CITIZENFOUR“ vorsichtshalber in Deutschland produziert – in den USA wäre ihr Material womöglich von den Behörden behändigt worden. Die gegebene Überwachungssituation verändere die Wahrnehmung des Alltags und damit das alltägliche Verhalten, resümierte der deutsche Produzent an der Pressekonferenz.
Verschiedene Wirklichkeiten – Mediation durch das Medium Film
Viele am DOK gezeigte Filme zeigen, wie anders verschiedene Menschen die Wirklichkeit sehen können.
Mit „Storming Paradise“ („Paradijs-bestormers“, Niederlande 2014) zeichnet Floor van der Meulen das Porträt eines freundlichen jungen Holländers, der mit den syrischen Dschihadisten kämpfen will. Er fühlt sich seit 9/11 in Holland als Muslim nicht mehr willkommen und glaubt, dass er mit seinem Märtyrertod 70 anderen Glaubensgeschwistern den Weg ins Paradies öffnen könne. Sowohl in Holland als auch im offensichtlicheren Krisengebiet hat die Filmerin noch andere Dschihad-Sympathisanten und -Kämpfer getroffen und befragt, einige Kämpfer hat sie mit Kameras ausgerüstet, aus dem gesamten Material hat sie dann ihren Film geschnitten. „Storming Paradise“ irritiert jene, die von den fremden Wirklichkeiten, die er zeigt, der Einfachheit halber lieber keine Kenntnis nähmen, und doch ist eine solche Kenntnisnahme einer der wichtigsten Schritte jeder Mediation und Friedensarbeit.
Claudine Bories’ und Patrice Chagnards „Rules oft he Game“ („Les règles du jeu“, Frankreich 2014) haben die diesjährige „Goldene Taube“ der internationalen Jury für Dokumentarfilme davongetragen. „Anpassung an die Gesellschaft und die eigenartigen Bedürfnisse des Marktes“ heisst es in der Laudatio, seien die Themen dieser „Dokumentarkomödie über eine Gruppe junger Franzosen, die ihre Verachtung für die SPIELREGELN nicht verbergen kann.“
Was die Anwesenheit einer Filmcrew bei kontroversen Verhandlungen bewirkt, ist meist nicht Gegenstand der entsprechenden Dokumentationen. Aber man ahnt, dass etwa die Gemeindeversammlung zu Tsromi, dem Geburtsort sowohl Josef Stalins als auch der Autorin des reizenden kleinen Werks „The Ruler“ („Khelmtsipe“, Shalva Shengeli, Georgien 2014) ohne Filmarbeit anders verlaufen wäre. Ein Nonnenkloster beansprucht nämlich dort einen Hof in der Nähe der Kirche, und genau in diesem Hof steht eine zerfallende Statue von Josef Stalin. Muss dieses Bildnis eines Massenmörders, wie ihn eine junge Frau nennt, verschwinden? oder einfach woanders aufgestellt werden? Viele Dörfler bewundern Stalin noch immer, er sei ein schöner Mann gewesen und habe ein grosses Reich aufgebaut, einer hat ihn in der Kirche versteckt, als er auf der Flucht war. Die Filmerin hört allen aufmerksam zu, schliesslich darf die Stalin-Statue, liebevoll restauriert, am alten Platze bleiben.
„The Agreement“ („Forhandleren“, Karen Stokkendal Poulsen, Dänemark 2014) dokumentiert die mehrwöchige Endphase der langen Verhandlungen zwischen Serbien und dem Kosovo im Jahr 2012. Serbien ist vertreten durch den Chef-Unterhändler Borko Stefanović, der zuweilen geradezu tötende Blicke auf sein Gegenüber wirft – in früheren Jahren hat er ganz lustig in einer Band mitspielt. Den Kosovo repräsentiert dessen stellvertretende Ministerpräsidentin Edita Tahiri, die, Professorin mit Harvard-Degree, immer perfekt gekleidet und frisiert, recht arrogant wirken kann. Die beiden betrachten den vorliegenden Konflikt vollkommen unterschiedlich. Die Rolle eines Mediators zwischen ihnen obliegt dem weisen EU-Vermittler Robert Cooper. Coopers Leistung ist ein Schul-, wenn nicht Meisterstück von Mediation, Stokkendal Poulsens Film ein ebenso bewundernswürdiges Dokument einer solchen Arbeit.
Wirklichkeit? Welche Wirklichkeit ist denn die unsere – die meine? Die Reflexion der eigenen Wahrnehmung im Lichte fremder kann man gerade am Beispiel Dokumentarfilm gut üben. In sich aufnehmen, was sich als Wirklichkeit präsentiert und dann den eigenen ‘Film’ daraus zusammensetzen, gerade wie Jon Bang Carlsen, ist Fitness für den Geist.
DOK 2015
Im nächsten Jahr findet das Festival vom 26.Oktober bis zum 1. November statt. Claas Danielsen, der es die letzten zehn Jahre lang geleitet hat, dieses Amt jedoch auf Jahresende an die Finnin Leena Pasanen abgibt, freut sich über den diesjährigen neuen Zuschauerrekord, blickt jedoch mit Sorge auf die Kapazitätsgrenze der bisherigen Infrastrukur. Knapp 80 Vorstellungen waren dieses Jahr ausverkauft. Das bedeutete für die Interessierten Warteschlangen und Enttäuschungen.
Über sämtliche am 57sten DOK gezeigten Filme informiert der „Filmfinder“