Wenn plötzlich durch Mutation ein todbringender Virus-Typ entstehen sollte, könnte er infolge der schnellen Übertragungsmöglichkeiten, wie sie die heutige Zeit mit sich bringt, in die fernsten Winkel der Erde gelangen und den Tod von Millionen von Menschen verursachen.
(Wendell Meredith Stanley, amerikanischer Biochemiker, Virologe, und Nobelpreisträger für Chemie von 1946 am 22. Dezember 1947)
Dieses Zitat steht am Beginn eines Buches, das als ein Meisterwerk der Science-Fiction-Literatur gilt. Es wurde erstmals 1949 unter dem Titel „Earth Abides“ in den USA veröffentlicht und ist 2016 in Deutschland neu aufgelegt worden. (1) Autor George R. Stewart beschreibt den Lebensweg eines Mannes, der wegen eines Schlangenbisses ein paar Tage in seiner Berghütte bleiben muss und nach seiner Genesung mit Schrecken erfahren muss, dass so gut wie alle Menschen seines Landes, der Vereinigten Staaten von Amerika, von einem tödlichen Virus dahingerafft worden sind.
Ish, so lautet der Kurzname dieses Davongekommenen, überlebt, indem er in Supermärkte einbricht und sich dort mit Lebensmitteln versorgt. Er reist mit seinem Auto über den halben Kontinent (Treibstoff findet er überall an den verlassenen Tankstellen). Gelegentlich begegnen ihm Tiere, gelegentlich auch einzelne Menschen. Schliesslich trifft er eine Frau, mit der er dann zusammenlebt, Kinder zeugt und eine neue Familie gründet. Zu den beiden gesellen sich einige wenige andere Überlebende, so dass eine Art Gemeinschaft entsteht. Als ein Fremder sich dieser Gruppe anschliesst und die neue Gemeinschaft durch sein aggressives Auftreten zu zerstören droht, wird der Fremde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Erste Zeichen einer sich bildenden Justiz.
Ish stirbt schliesslich in hohem Alter, geachtet von der neuen Generation. Ish ist, so schildert der Autor den inneren Wandel des Überlebenden der durch ein Virus zu Grunde gegangenen Zivilisation, zu der Überzeugung gekommen, dass der Mensch Frieden mit sich selber schliessen sollte. Andernfalls drohe die Wiederholung der Katastrophe.
Seuchen in der Antike
Aktuelle Bezüge? Ja natürlich, die USA zum Beispiel. Doch davon ein wenig später. Denn die Geschichte ist reich an Berichten über Epidemien und Pandemien, welche in anscheinend so normalglücklichen Zeiten schliesslich den geplanten Lauf der Ereignisse verändert haben.
So berichtet schon der griechische Historiker Thukydides von einem „verhängnisvollen und tödlichen Ereignis“, das im Jahre 430 v. Chr. die Menschen in Athen befallen habe. Denn in diesem Jahre, schreibt Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges, habe sich „die Seuche erstmals unter den Athenern“ gezeigt. (2) Historiker rätseln seitdem, um was für eine Seuche es sich gehandelt habe, Man schätze, dass etwa 200’000 Athener elend zu Grunde gegangen seien. Doch die „verhängnisvolle und schrecklich tödliche Heimsuchung“ (so Thukydides) habe nicht nur die menschlichen Körper angegriffen, sondern das Staatswesen, die Gesellschaft unterminiert. Die städtischen Institutionen seien fast funktionsuntüchtig geworden, Friedhöfe seien aufgelassen worden, Strassen und Tempel überhäuft gewesen mit toten oder sterbenden Menschen. Vor den Göttern habe man sich nicht mehr gefürchtet, die Achtung vor anderen Menschen sei zusammengebrochen. Anarchie sei, so schreibt Thukydides, zur Regel geworden, als die Menschen es gewagt hätten, „Dinge zu tun, welche sie sonst nur in einer dunklen, verborgenen Ecke getan hätten“.
Untergang des Römischen Reiches
Auch die Geschichte des Römischen Imperiums ist – besonders in der Phase seines Unterganges – durch ein Zusammentreffen von Chaos, ausgelöst durch Pandemien, aber auch durch Klimakrisen bestimmt. Jedenfalls schreibt das der amerikanische Historiker Kyle Harper in seinem Buch „Fatum – Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches“. (3)
Kyle Harper beschreibt die Antoninische Pest (die etwa von 165 bis 180 n. Chr. wütete, verursacht vermutlich durch Pocken), benannt nach Marcus Aurelius Antoninus, der als Kaiser Marc Aurel in die Geschichte eingegangen ist. Die Antoninische Pest habe wahrscheinlich etwa sieben Millionen Menschen getötet, sei aber dennoch die harmloseste aller drei Seuchen gewesen, welche die Menschen des Imperiums im Laufe der Jahrhunderte heimgesucht habe. Die Seuche habe die Menschen dazu getrieben, schreibt der Autor, „in einem archaischen und zunehmend universellen Apollokult ihr Heil zu suchen“. Heute würde man sagen, dass Covid-19 viele Menschen zu Anhängern verhängnisvoller Verschwörungstheorien macht.
Kyle Harper schreibt auch über die Cyprianische Pest, benannt nach dem Bischof von Karthago, die etwa von 250 bis 271 wütete. Allein in Rom sind, nach Wikipedia, täglich bis zu 5000 Menschen dahingerafft worden. Die Cyprianische Pest habe, schreibt Kyle Harper, die Grundfesten des antiken Polytheismus zum Einsturz gebracht und es dem Christentum ermöglicht, das Vakuum zu füllen.
Vor allem aber widmet sich Kyle Harper der justinianischen Seuche, benannt nach dem oströmischen Kaiser Justinian. Diese Seuche trat erstmals 541 in Ägypten auf, dann 542 in Konstantinopel und danach im gesamten Mittelmeerraum und gilt als die grösste antike Epidemie zwischen Nord- und Nordwesteuropa, dem Mittelmeerraum und dem Sassanidenreich. „Bis in die Zeit nach 770 kam es zu unregelmässigen Ausbrüchen der Krankheit, welcher apokalyptische Ausmasse zugeschrieben wurden. Nach derzeitigem Forschungsstand handelte es sich bei der Seuche um die Pest.“ (nach Wikipedia)
Sieg der Natur
Kyle Harper schreibt, dass die justinianische Pest das bis dahin „grösste Massensterben in der Geschichte der Menschheit“ verursacht habe. Es sei zudem „eine schlichte Tatsache, dass diese Zeit von aussergewöhnlich schweren Erdbeben erschüttert wurde“. Dazu sei eine kleine Eiszeit gekommen. Diese desaströsen Umwelteinflüsse seien ausserhalb jeder menschlichen Kontrolle gewesen. Die Auswirkungen dieser Umwelteinflüsse waren, schreibt Kyle Harper, „untrennbar mit den Folgen der Pandemie verbunden. Der Klimawandel in Verbindung mit Seuchen richtete die Überreste der römischen imperialen Ordnung zugrunde“.
Der Untergang des Römischen Reiches bedeutete, schreibt Kyle Harper, „letztlich den Sieg der Natur über menschliche Ambitionen“. Akteure in diesem Untergangdrama seien zwar auf den ersten Blick Kaiser, Senatoren, Barbaren, Feldherren und Soldaten gewesen, aber „Roms Schicksal wurde ebenso bestimmt durch Bakterien, Viren, Vulkanausbrüche und Sonnenzyklen“. So habe das Zusammentreffen von Umweltschäden, politischem Zerfall und religiöser Gärung die letzte Phase von Roms Untergang bestimmt. Und schliesslich: ohne diese Umbrüche sei, schreibt Kyle Harper, der Aufstieg des Islam nicht denkbar gewesen.
Pandemien haben die Menschheit immer wieder heimgesucht. Giovanni Boccaccio hat die Pest von Florenz des Jahres 1348 zum Anlass seines Werkes „Decamerone“ genommen, in welchem sieben Frauen und drei Männer in ein Landhaus flüchten und in dem jede Person einmal am Tag zu einem Thema sprechen muss. Nachdem zehn Personen an zehn Tagen jeweils einen Beitrag geleistet haben, kehren die Anwesenden nach Florenz zurück. Als im 17. Jahhundert etwa 100’000 Menschen in London an der Pest starben, schrieb Daniel Defoe sein Werk „Die Pest zu London“. Und an der „Spanischen Grippe“ (spanisch, weil zuerst spanische Zeitungen berichtet hatten, in Wahrheit wurde die Krankheit von US-Soldaten nach Europa eingeschleppt) starben in den Jahren 1918 bis 1920 schätzungsweise zwischen 20 und 50 Millionen Menschen – mehr als im ersten Weltkrieg mit seinen 17 Millionen Toten.
Und heute?
„Binnen nur einer Jahreszeit hat ein mikroskopischer Parasit, der 10’000 Mal kleiner als ein Salzkorn ist, die gesamte Zivilisation erniedrigt. Covid-19 attackiert unsere physischen Körper, aber auch die kulturellen Grundlagen unseres Lebens, den Werkzeugkasten für Gemeinschaft und Verbundenheit.“ Das schreibt Wade Davis, Professor für Anthropologie an der Universität von Vancouver, unter dem Titel „Corona oder: Das klägliche Ende des amerikanischen Traums“ in der Oktoberausgabe der in Berlin erscheinenden „Blätter für Deutsche und Internationale Politik“.
Ende des amerikanischen Zeitalters
Was diese Analyse für die USA bedeutet, schreibt der Autor wenig später. In einer „dunklen Seuchensaison“ habe Covid die „Illusion des amerikanischen Exzeptionalismus vollständig zerstört“. Als jeden Tag mehr als 2000 Menschen gestorben seien, hätten sich die Amerikaner in „einem gescheiterten Staat“ wiedergefunden, der von einer „dysfunktionalen und inkompetenten Regierung“ geführt worden sei, welche „Amerikas weltweiten Führungsanspruch in einem tragischen Schlusssatz“ habe „ausklingen“ lassen.
Professor Wade Davis zitiert einen Beitrag der Zeitung „Irish Times“: Über zwei Jahrhunderte hätten die USA alle möglichen Emotionen auf sich gezogen – Liebe, Angst, Hass, Hoffnung, Neid, Verachtung, Ehrfurcht. Aber es gebe eine Emotion, die bis jetzt nie auf die USA gerichtet worden sei, nämlich Mitleid. Wade Davis fährt fort: „Als amerikanische Ärzte und Krankenschwestern sehnlichst auf Notfall-Lufttransporte mit Grundversorgung aus China warteten, öffnete sich das Tor der Geschichte zum asiatischen Jahrhundert.“
Und als schliesslich „in jeder Minute eines jeden Tages ein weiterer Amerikaner starb, schaffte es ein Land, das einst Kriegsflugzeuge im Stundentakt produziert hatte (im zweiten Weltkrieg, Anm. d. Verf.), nicht, die Papiermasken oder Wattestäbchen herzustellen, die für das Nachverfolgen der Krankheit unverzichtbar waren.“
Wade Davis schreibt weiter, es sei durchaus möglich, dass sich in den USA eine soziale Demokratie niemals etablieren werde. Soziale Demokratien seien deshalb erfolgreich, weil sie „dynamische kapitalistische Ökonomien anfachen, die aber eben jeder Gesellschaftsschicht nutzen“. Genau diesen Entwicklungspfad hätten die USA nicht genommen. Schon gar nicht unter einem Präsidenten wie Donald Trump. „Aber selbst wenn Trump schallend besiegt werden sollte, ist keineswegs klar, ob ein derart tief gespaltenes Land in der Lage sein wird, erneut vorauszublicken. Was auch geschieht, Amerikas Zeit ist abgelaufen.“ Wie jene Epoche des Römischen Imperiums nach der justinianischen Seuche?
In dem eingangs erwähnten Science-Fiction-Buch „Earth Abides“ (Deutscher Titel: Leben ohne Ende) von George R. Stewart, sehnt sich die Hauptfigur Ish am Ende seines Lebens keineswegs nach der Restauration der alten amerikanischen Ordnung. Ish, so beschreibt Stewart den letzten, gerade sterbenden Menschen der durch ein Virus untergegangenen Zivilisation, „war der Letzte der Alten, sie (die Nachkommen von Ish, Anm. d. Verf.) waren die Ersten der Neuen. Aber ob die Neuen denselben Weg einschlagen würden, den die Alten eingeschlagen hatten, das wusste er (Ish) nicht, aber er war sich jetzt beinahe sicher, dass er es nicht wünschte. Er dachte an all das, worauf Zivilisation errichtet worden war: Sklaverei, Eroberung, Krieg, Unterdrückung.“
Ish stirbt friedlich. Worauf eine neue Ordnung gründen könnte – sofern es eine solche nach dem Klimawandel noch geben kann, müsste man heute hinzufügen –, bleibt bei George R. Stewart offen. Denn Ish gibt in seinen letzten Stunden düstere Gedanken preis: Wie die Menschen, so würden auch die Schöpfungen des Menschen nicht ewig existieren, sagt er. Klar wird dennoch: Durch die Figur des Seuchenüberlebenden Ish plädiert Stewart für ein einfacheres, naturverbundeneres, Ressourcen schonenderes Leben als jenes, das wir heute alle leben.
Dieses Ziel sollte keine Science-Fiction bleiben.
(1) George R. Stewart: Leben ohne Ende, Wilhelm Heyne Verlag, München 2016
(2) Zitiert nach Robert Zaretsky: When the Plague Came to Athens. In: Foreign Affairs, Ausgabe vom Mai 2020
(3) Kyle Harper: Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches. Verlag C.H. Beck, München 2020