Vor ungefähr einem Vierteljahrhundert las ich in einer amerikanischen Zeitung (ich glaube es war das «Wall Street Journal»), dass lokale Zeitungen die Möglichkeit hätten, Berichte über Basketball-Spiele in der Provinz mit Hilfe von Computer-Software zu verfassen. Benötigt würden für solche Berichte nur noch die numerischen Eckdaten (Schlussergebnis, wer hat wann die Punkte erzielt usw.), die von einem Stringer per Telefon oder E-Mail mitgeteilt würden. Der Prosabericht selber werde dann vom Software-Programm geschrieben. Das biete den Verlegern erhebliche Kostenersparnisse.
Journalisten werden noch nicht ersetzt
Diese Nachricht veranlasste mich damals zu einigen besorgte Gedanken über die Zukunft des geschriebenen Journalismus. Soviel ich aber weiss, hat sich diese künstliche Produktionsmethode von Sportberichten nicht auf breiter Flur durchgesetzt. Wenn ich in der Zeitung über das Lokalderby GC – FCZ oder Näheres über das letzte Länderspiel der Schweizer Nationalmannschaft lese, gehe ich immer noch davon aus, dass diese Artikel von einem richtigen Sportjournalisten aus Fleisch und Blut geschrieben wurden. Dazu stehen ja auch entsprechende Autorennamen.
Nun berichtet aber die NZZ dieser Tage in einem längeren Beitrag im Ressort Forschung und Technik, dass bei der KI zur Herstellung von Texten erstaunliche Fortschritte zu vermeldet seien. Die gemeinnützige Forschungsorganisation OpenAI (Artificial Intelligence) habe ein System entwickelt, das anhand von Beispielen in der Lage sei, «selbsttätig zusammenhängende Textabschnitte zu verfassen, die von Menschenhand geschrieben scheinen».
Acht Millionen Dokumente als KI-Lernstoff
Bezugnehmend auf einen Bericht im «Guardian» heisst es weiter, dass die kalifornische Forschungsorganisation OpenAI vorläufige nicht alle Daten des System-Codes veröffentliche, um so Missbrauchsrisiken zu vermeiden. Dennoch tönen die Angaben über die Datenmengen, mit denen dieses künstliche Textverfassungssystem arbeiten soll, imposant. Es werde mit acht Millionen Dokumenten aus dem Internet zum Lernen trainiert. Wegen dieser enormen Datenmenge soll es in der Lage sein, aufgrund einer blossen Titeleingabe und eventuell einiger zusätzlicher Stichworte vernünftige Zusammenhänge von Wörtern zu erfassen und differenzierte Texte zu generieren. Zwar gelinge das vorläufig nur selten, aber die erzielten Erfolge liessen auf ein «gewaltiges Potential» solcher Systeme schliessen.
Natürlich wird bei diesem Bericht auch auf die Gefahren verwiesen, die bei der Fortentwicklung solcher automatisierter Textproduktionen drohen könnten: Eine noch massenhaftere Zunahme und Verbreitung von Fake- und Propaganda-News, als sie heute schon im Schwange sind. Irritierender aber scheint mir der Gedanke, dass immer klüger und raffinierter werdende Textmaschinen eines Tages vielleicht sogar in der seriösen Literatur die Dominanz erlangen könnten.
Julian Barnes lässt sich nicht erschüttern
Ist es denkbar, dass später nicht nur die inflationären Kriminalgeschichten, sondern selbst die grossen Romane der zukünftigen Weltliteratur – also die Nachfolgewerke in der Kategorie eines Tolstoi, Proust oder Joyce – von solchen KI-Tausendsassas geschrieben werden? Den Literaturliebhaber schaudert’s ob derartiger Möglichkeiten.
Doch dann lese ich mit einiger Beruhigung ein Interview des grossen britischen Autors Julian Barnes in der «Zeit». Der 73-jährige Barnes, der soeben mit seinem unlängst auf Deutsch erschienen Roman «Die einzige Geschichte» Furore macht, erklärt seelenruhig, er habe zwar allerlei Ängste, aber «ich verliere nie den Glauben an die Literatur». Auch Netflix werde dem Roman nicht den Garaus machen.
Offenkundig glaubt dieser weise, lebenskluge Autor überhaupt nicht daran, dass zumindest in den höheren Bereichen der Sprachkunst der individuelle Autor ersetzbar werden wird. Die Erfahrung, dass trotz gegenteiliger früherer Prognosen auch die Sportjournalisten bis heute noch nicht durch clevere Textmaschinen ersetzt worden sind, spricht ebenfalls für die Richtigkeit von Julian Barnes’ Überzeugung.