Auf einem muslimischen Friedhof in Bulgarien wird ein Grabstein gefunden. Auf dem oberen, sichtbaren Teil des Steins finden sich islamische Symbole. Auf dem unteren Teil des Steins, jener der in der Erde steckte, ist ein christliches Kreuz eingraviert.
War der Mann, der hier begraben war, nun ein Muslim oder ein Christ? Oder war er ein Christ, der von den Osmanen gezwungen wurde, den islamischen Glauben anzunehmen?
Der Grabstein steht heute in einem Museum in der südbulgarischen Stadt Smoljan. Gefunden wurde er in einem Pomaken-Dorf. Pomaken?
Selbst den Toten nahm man ihre Namen
Die meisten Pomaken leben im Süden Bulgariens und auf der andern Seite der Grenze zu Griechenland. Bulgarien hat die Pomaken nie als eigenständige Volksgruppe anerkannt. Viele dieser Muslime wollen nicht mehr, dass man sie als Pomake bezeichnet, denn den Ausdruck Pomake empfinden sie als beleidigend.
In den 1960er und 1970er Jahren spielte sich in den pomakischen Dörfern eine Tragödie ab. Die bulgarischen Kommunisten zwangen die Pomaken, ihre traditionell türkisch-islamischen Namen durch bulgarisch-slawische zu ersetzen. So wollte die Kommunistische Partei den Pomaken eine bulgarische Identität aufzwingen. Doch viele waren nicht bereit, einen bulgarischen und damit einen christlichen Vornamen anzunehmen. Schliesslich waren sie Muslime und keine Christen wie die Bulgaren. Doch wer sich nicht fügte, wurde festgenommen und in die Verbannung geschickt. So zum Beispiel Emin Kadri, der plötzlich Ivan Kadriev heissen sollte.
Selbst den Toten nahm man ihre Namen. Auf den Grabsteinen wurden die alten muslimischen Namen entfernt und durch slawische ersetzt. „Man hat sogar den Toten ihre Identität gestohlen“, sagt eine Pomakin.
Verlorene Identität
Doch die bulgarische Nation wurde mit den erzwungenen Namenwechseln nicht geeint, sondern zutiefst gespalten.
Die Tragödie der Pomaken habe sich weitgehend im Verborgenen abgespielt, schreibt Cyrill Stieger in seinem Buch „Wir wissen nicht mehr, wer wir sind.“ (1). Die Pomaken „können tun und lassen, was sie wollen, sie werden immer an den Rand der Gesellschaft gedrängt“.
Doch in Stiegers Buch (Foto: Paul Zsolnay Verlag) geht es nicht nur um die Pomaken. Während vieler Jahre besuchte der Autor die vergessenen Minderheiten auf dem Balkan. Er, einstiger Korrespondent und Redaktor der „Neuen Zürcher Zeitung“, beschreibt Volksgruppen, von denen selbst die meisten Balkan-Bewohner nicht wissen, dass sie existieren.
Viele dieser Minderheiten leben fast in Reservaten, in Oasen oder gar Ghettos. Viele wurden „albanisiert“, „zwangsbulgarisiert“, „zwangsislamisiert“, „kroatisiert“. Da gibt es „vertürkte“ Bulgaren, Türken, die keine Türken sind; da gibt es nicht-muslimische Muslime. Viele dieser Menschen verloren ihre Identität oder mussten sie im Interesse der Politik, der Nation an den Nagel hängen. Stieger macht deutlich, dass die ethnische, sprachliche, konfessionelle und kulturelle Vielfalt auf dem Balkan gewaltig ist. Doch die meisten dieser Minderheiten sterben langsam aus.
Auch der Islam gehört zu Europa
Dass heute viele Muslime auf dem Balkan leben, sei dem Westen erst durch den Bosnienkrieg Anfang der Neunzigerjahre so richtig bewusst geworden, schreibt Stieger. „Gerade der Balkan zeigt: Auch der Islam gehört zu Europa, nicht nur das Christentum.“
Viele Christen nahmen während der osmanischen Herrschaft freiwillig den islamischen Glauben an. Das hatte ganz praktische und egoistische Gründe. Im Osmanischen Reich wurden die Christen diskriminiert. Wer Karriere machen wollte, sollte ein Muslim sein. „Religiöse Überzeugungen spielten beim Religionswechsel kaum eine Rolle“, schreibt Stieger.
Torbeschen, Aromunen, Istrorumänen
In jahrelanger Kleinarbeit spürte der Autor auch den muslimischen Torbeschen im christlichen Mazedonien nach. Sie sind keine offiziell anerkannte ethnische Gruppe. Wie die Pomaken fühlen sie sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt und diskriminiert. Wenn ein Torbesche eine Arbeitsstelle sucht, tut er gut daran, seine ethnische Identität zu verschweigen.
Ebenfalls in Mazedonien gibt es die christlichen Aromunen. Auch sie fühlen sich diskriminiert. Es stört sie, dass der Westen die muslimischen Albaner unterstützt. Stieger zitiert den Radiomann Dina Cuvata: „Wir haben nie etwas von europäischen Institutionen bekommen. Müssen wir denn Muslime sein, damit sich Europa für uns interessiert?“ Der Aromune Niko Berberu wird zitiert. „Es macht mich traurig, dass eine ganze Kultur verloren geht.“
Da gibt es auch die kroatischen Istrorumänen, die keine Rumänen sind. Sie leben im Nordosten Istriens. Ihre Dörfer leeren sich. „Wer will schon in ein Dorf zurückkehren, in dem nur Hühner gackern und Hunde bellen, in dem nichts los ist“, zitiert Stieger eine Frau. Eine in New York lehrende Linguistin versucht, ihre Sprache zu retten. Mit wenig Illusionen. „Wenn 50 Wörter erhalten bleiben“, zitiert sie Stieger, „ist unsere Arbeit nicht vergeblich.“
Er lässt sie reden
Der Autor ist in die Rolle eines Reporters geschlüpft. Er berichtet, wie er in halb verlassene Dörfer kommt. „Niemand ist auf der Strasse, nur Hunde bellen“, schreibt er einmal. Doch dann findet er sie, die Menschen. Er hat Dutzende und Aberdutzende Gespräche geführt. Er befragte nicht gescheite Professoren oder Politiker. Er sprach mit einfachen Menschen: mit dem Mann und der Frau auf der Strasse, Menschen die vor ihren Häusern oder im Café sitzen und auf irgendetwas warten. Er lässt sie reden, er gibt ihnen eine Stimme. Oft widersprechen sie sich, oft sind sie wütend, oft sind sie traurig, oft verbergen sie ihre Identität aus Angst, stigmatisiert zu werden. So zeichnet er ein faszinierendes, farbiges Tableau dieses ethnischen Flickenteppichs. Das ist die Stärke dieses Buches.
Auch die griechisch-katholischen Uskoken hat Stieger aufgesucht. Sie leben in Kroatien an der Grenze zu Slowenien. Auch wenn sie von der Welt vergessen sind: sie sind stolz auf ihre Identität und ihr Vermächtnis. Westeuropa hätte ihnen viel zu verdanken, sagen sie. Die Uskoken rühmen sich, dass tapfere uskokische Kämpfer im 16. Jahrhundert den türkischen Expansionsdrang Richtung Europa gestoppt hätten. Ohne die Uskoken, so die Legende, wäre heute Zagreb islamisch – und damit wohl auch ganz Westeuropa.
(1) Cyrill Stieger:
„Wir wissen nicht mehr, wer wir sind“. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2017.
ISBN 978-3-552-05872-9
Auch als E-Book
Der Autor stellt am 31. Oktober in der Buchhandlung „sphères“ in Zürich sein Buch vor. Beginn: 19.00 Uhr
Weitere Termine
7. November: Jena, Universitätsbuchhandlung Thalia
15. November: Wien Universität Wien