Wenn das Schlussresultat das gleiche Bild zeigen sollte wie die Zahlen im Wahlbarometer, die auf einen gewissen Rechtsrutsch mit einer Stärkung von SVP und FDP hindeuten, nicht zuletzt auf Kosten der Mitte und der grünen Parteien, sieht der Berner Politikwissenschafter Adrian Vatter Konsequenzen für die Allianzbildungen im neuen Parlament voraus, auch für die Implementierung der Sozialpolitik. Ebenso wäre ein Zurückbuchstabieren der Umwelt- und Energievorlagen wahrscheinlich.
Markige Aussagen
«Wahlkampfrhetorik in erster Linie», nennt Adrian Vatter die Schlagworte von der «Richtungswahl» oder gar der «Schicksalswahl» am 18. Oktober. Der Politologieprofessor sagt, dass besonders die Parteien links und rechts damit das Publikum mobilisieren wollten, aber diese markigen Aussagen hätten schon vor vier und vor acht Jahren nicht anders gelautet als in den vergangenen Wochen, vielleicht mit Ausnahme der Wahlen 2003, als es darum ging, ob Christoph Blocher in den Bundesrat kommt: «Es ist den Parlamentswahlen 2015 historisch keine grössere Bedeutung beizumessen als anderen», so Vatter, «ausser beim Thema Europa.»
Die Schweiz befinde sich in einer schwierigen Umbruchsituation; die Frist zur Umsetzung der äusserst knapp angenommenen Masseneinwanderungsinitiative der SVP laufe während der kommenden Legislatur ab, und das neugewählte Parlament müsse sich unter Federführung des Bundesrates mit diesem Thema befassen. Vatter ist hier insofern optimistisch, als er sicher ist, dass eine pragmatische Lösung gefunden werde: «Alle Beteiligten, Regierung, Verwaltung und auch das Parlament haben ein Interesse an einer solchen Lösung, für die es verschiedene Möglichkeiten gibt.»
Verhältnis zu Europa
Für Vatter gehört die Klärung des Verhältnisses der Schweiz zu Europa sicher zu den Schwerpunktthemen der nächsten Legislatur. «Es braucht eine Neuausrichtung der bilateralen Verträge», sagt Adrian Vatter, «allenfalls dank neuer Verhandlungen. Aber es gibt auch Überlegungen, nochmals eine Volksabstimmung über die Zuwanderung durchzuführen.» Der Co-Autor eines kürzlich erschienen Buches über Wahlen in der Schweiz hält dies durchaus für eine Möglichkeit, «indem man bei der Bevölkerung nicht die gleiche, aber eine neue Vorlage zur Abstimmung bringt, die erstens klarer die Alternativen vorstellt und zweitens als Zückerchen die Bilateralen kombiniert mit neuen Abkommen, etwa aus dem Strom- und Forschungsbereich sowie auch andere, die jetzt verhandelt werden».
Vor allem, so Vatter, müsste die Bevölkerung an der Urne eine Frage beantworten: Wollt Ihr tatsächlich die konsequente Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, was die Auflösung der bilateralen Verträge bedeuten würde: «Eine neue Abstimmung hätte den Vorteil, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger vor eindeutige Alternativen mit klaren Konsequenzen gestellt würden.»
Reform der Sozialwerke
Als weiteren Schwerpunkt für die nächste Legislatur sieht Adrian Vatter die Reform der Sozialwerke. Bei der demografischen Entwicklung der Schweiz und angesichts der drohenden Finanzierungslücke der AHV sei dies ein wichtiges Thema, das eine Lösung erfordere. Der Bundesrat sei mit den Vorschlägen von Sozialminister Alain Berset gut, aber riskant unterwegs, weil ein Gesamtpaket vorgelegt werden soll, aber dies sei durchaus einen Versuch wert: «Die Fachkommissionen, speziell jene des Ständerats, haben nur leichte Modifikationen vorgenommen, und ich würde nicht sagen, dass das Reformpaket bereits gescheitert sei. Immerhin ist es im Ständerat bereits angenommen worden. Aber es bedingt das Problembewusstsein aller Parlamentarier.»
Ist es ein neueres Phänomen, dass die Parlamentsmitglieder in Bern nicht in erster Linie daran denken und arbeiten, ihrem Land zu dienen, sondern eher ihre Wiederwahl und damit das Echo zu Hause im Kopf haben? Diese Kritik, sagt Vatter, habe es schon früher gegeben: «Es ist das Ziel aller Politiker und Politikerinnen, ins nationale Parlament zu gelangen, und sie sind dort eher bereit, sich zum Wohl der Eidgenossenschaft zu engagieren. Den Wunsch, vor allem die eigene berufliche Karriere zu fördern, sieht man eher in den Parlamenten auf kantonaler und kommunaler Ebene, wo es sehr viele Rücktritte gibt.» Ernst zu nehmen seien die Nachwuchsprobleme der Parteien.
Grenzen des Milizparlaments
Das Parlament in Bern sei kein Milizparlament mehr, sagt der Politikwissenschaftler, das sei ein Mythos. Die Dissertation «Das Schweizer Parlament» von Sarah Bütikofer in einer von ihm mit herausgegebenen Reihe zeige klar, dass im Nationalrat die Hälfte und im Ständerat sogar drei Viertel der Abgeordneten ihre meiste Zeit dem politischen Mandat widmen. Vor allem in der jüngeren Generation bezeichneten sich viele als Berufspolitiker. Deshalb würde Vatter dafür plädieren, dass alle Parlamentarier wie in ausländischen Parlamenten eigene Mitarbeiter zur Verfügung hätten, die ihnen helfen würden, die komplexen Vorlagen, mit denen der Bundesrat sie eindeckt, durchzuarbeiten, doch das sei eine Frage der Ressourcen. Schon heute gibt es einen Beitrag für persönliche Mitarbeitende, aber die meisten Abgeordneten stellen damit die eigenen Ehepartner an.
Als Politologe ist Adrian Vatter bestrebt, sich möglichst breit und aus verschiedenen Quellen zu informieren, und daraus entwickele sich durchaus ein Eindruck, wie die Wahlen herauskommen könnten: «Ich habe heute den Eindruck, dass wir einen Schritt zurückgehen werden. Es wird sein wie vor acht Jahren - die Mitte wird geschwächt, profitieren werden die Parteien links und rechts, vor allem die grösseren, also SVP und FDP auf der einen und die SP auf der anderen Seite. Das heisst, dass die politische Polarisierung, die man gestoppt sah, weiter zunehmen wird. Das Regieren im Bundesrat wird schwieriger, vermutlich wird es einen zweiten SVP-Bundesrat geben, die CVP und die BDP, die versuchten, zwischen den Polen zu vermitteln, bekommen Probleme, das macht auch der Legislative zu schaffen. Ob eine neue Konstellation die Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf das Amt kosten könnte, ist noch nicht sicher, denn die BDP wird weniger verlieren, als man denkt.»