„Dass man sich um dieses Amt reissen kann, ist mir ein Rätsel“, kommentiert ein Journalist der Römer Zeitung „La Repubblica“ gegenüber Journal21. „In Rom, dieser Mafia-Krake, kann man nur verlieren“.
Er fügt bei: „Karrierefördernd ist dieses Amt nicht“. Tatsächlich: Fast alle Römer Stadtpräsidenten sind gescheitert und haben ihre politische Karriere auf dem Römer Kapitol beendet.
Virginia Raggi, der 37-jährige Shootingstar, will jetzt alles besser machen und den „Moloch Rom“ sanieren. Vor allem will sie die Mafia, die Korruption und die Rattenplage bekämpfen. Ihre Gegner höhnen schon: „Wie soll questa ragazza der Mafia die Stirn bieten!“
Es braucht mehr als fünf Sterne
Virginia Raggi gehört der Protestbewegung „Fünf Sterne“ (Cinque Stelle) des Ex-Komikers Beppe Grillo an. Doch um in Rom aufzuräumen, braucht es wohl mehr als fünf Sterne, es bräuchte ein ganzes Firmament.
Nach ihrem guten Abschneiden im ersten Wahlgang am 5. Juni war der Sieg der „Fünf Sterne“-Kandidatin erwartet worden. Auch deshalb, weil die Linke wieder einmal zerstritten war, und weil die fremdenfeindliche Lega Nord sich für Raggi stark gemacht hat.
Das hätte sie eigentlich nicht verdient. Denn ideologisch ist die Anwältin und Mutter eines siebenjährigen Sohnes keineswegs im Lega-Morast angesiedelt. Sie war früher eine Anhängerin der Linken, wandte sich aber von ihr ab, als auch die Linken in den römischen Korruptionssumpf gerieten. Der frühere sozialdemokratische Bürgermeister Ignazio Marino war im letzten Herbst wegen einer Spesenaffäre zurückgetreten. Dieses Amt galt es jetzt, neu zu besetzen.
"Korruptionsrestistenter" Gegenkandidat
Doch nicht nur die Linke war in diesem Wahlkampf zerstritten. Auch das rechtsgerichtete Berlusconi-Lager konnte sich mit der Lega nicht auf einen Kandidaten einigen. So schickte denn Berlusconi einen Party-Löwen in den ersten Wahlgang, der traurige 10,9 Prozent der Stimmen ergatterte.
Raggi hat in der jetzigen Stichwahl mit 67,2 Prozent der Stimmen komfortabel gewonnen.
An den Fähigkeiten ihres Gegenkandidaten, des 55-jährigen Sozialdemokraten Roberto Giachetti, hat kaum jemand gezweifelt. Giachetti ist Mitglied von Renzis Partito Democratico (PD). Er hat seine Sporen in der Stadtverwaltung abverdient und gilt als „korruptionsresistent“. Doch Charisma hat er keines, im Gegensatz zu seiner Gegenkandidatin, die von Fernsehstation zu Fernsehstation gereicht wurde.
Unerfahrenheit als Trumpf
Allerdings war es nicht nur das fehlende Charisma, das Giachetti scheitern liess. Die Wahl war vor allem eine Protestwahl gegen das Polit-Establishment, gegen die alte Kaste. Und dazu gehört Virginia Raggi nicht. Vor einigen Wochen noch kannte sie kaum jemand. Ihre politische Unerfahrenheit war in dieser Wahl sogar ein Trumpf. „Wir stellen alles auf den Kopf“, sagt sie.
Virginia Raggi sprach an der Schlussveranstaltung ihrer „Cinque-Stelle“-Bewegung in Ostia von „einem der schmutzigsten Wahlkämpfe“.
Noch am Freitag wurde ihr plötzlich vorgehalten, sie habe Nebeneinkünfte nicht deklariert, was sie bestreitet. Schon früher war ihr vorgeworfen worden, sie hätte auf einer Anwaltskanzlei gearbeitet, auf der auch der verurteilte Berlusconi-Freund und frühere Verteidigungsminister Cesare Previti tätig war.
Grillos grösste politische Trophäe
Ihre Gegner kritisierten auch, dass sie sich in Geiselhaft von Beppe Grillo (Bild) befinde und ferngesteuert sei. Tatsächlich verlangt Grillo von allen gewählten „Fünf Sterne“-Kandidaten, dass sie Politik in seinem Sinn betreiben – und im Sinn der Anhänger seiner Bewegung. In Internetumfragen können die „Grillini“ (die Grillen, die Anhänger Beppe Grillos) bestimmen, wie politisiert werden soll.
Virginia Raggi war selbst in einer Online-Umfrage mit 1'764 Stimmen zur Kandidatin bestimmt worden. Würde sie gegen den Willen Grillos und der Internetgemeinde verstossen, so müsste sie eine Strafzahlung leisten. So zumindest soll eine Abmachung lauten, von der niemand etwas Bestimmtes weiss.
Doch in der Praxis hat dies wohl wenig Bedeutung. Beppe Grillo würde es sich wohl zweimal überlegen, seine umhätschelte Vorzeigefrau, die als erste „Fünf Sterne“-Frau ein prestigeträchtiges Amt erobert hat, aus der Partei auszuschliessen oder gar zu büssen.
„La Raggi“ ist Beppe Grillos erste grosse politische Trophäe. Eine solche pflegt man.
Verkümmernde Berlusconi-Partei
Für Renzi ist der Verlust des Römer Bürgermeisteramts und die Niederlage in Turin ein harter Schlag. Kommentatoren sprechen schon von einem „schwarzen Tag“ für den Ministerpräsidenten: vom „Anfang vom Ende“. Während die Wahl Raggis erwartet worden war, kam die Nichtwahl des Renzi-Kandidaten und bisherigen Bürgermeisters von Turin völlig unerwartet. Ob er jetzt zurücktrete, wurde Renzi in der Nacht zum Montag gefragt: Antwort: "Das glaube ich eher nicht".
Doch vergessen wird, dass diese Wahl für die Rechte noch schlimmer verlief als für Renzi. Forza Italia, die Berlusconi-Partei, ist zerstritten und verkümmert immer mehr. Mailand war die einzige grosse Stadt, in der Berlusconi überhaupt einen Kandidaten in die Stichwahl brachte, zusammen mit der Lega. Überall sonst flogen die Berlusconi-Bewerber schon vorher raus.
Guter Ministerpräsident - schlechter Parteichef
Dennoch: Der Verlust von Rom kratzt an Renzis Sieger-Image und könnte Folgen haben. Vor allem innerhalb der eigenen Partei wird der Widerstand gegen ihn wieder wachsen. Renzi mag ein guter Ministerpräsident sein, aber er ist ein schlechter Parteichef. Seine Truppe hat er wenig unter Kontrolle.
Schlappe für Renzis Kandidat in Turin
Ausser in Rom fanden am Sonntag auch Stichwahlen in 125 weiteren Gemeinden statt. Das Interesse konzentrierte sich – neben der Hauptstadt – auf Turin, Mailand, Bologna, Neapel und Triest.
Turin: Die grösste Überraschung gab es in der piemontesischen Hauptstadt. Auch dort schickte Beppe Grillo eine attraktive junge Frau ins Rennen: Chiara Appendino (Bild). Mit ihrem originellen Wahlkampfslogan „L’Alternativa è sempre più Chiara“ sicherte sich die 31-jährigen Chiara den Sieg. Laut dem provisorischen Schlussergebnis hat Appendino 54,6 Prozent der Stimmen erhalten. Piero Fassino, der bisherige sozialdemokratische Bürgermeister, hatte im ersten Wahlgang vor zwei Wochen noch elf Prozent mehr Stimmen gemacht als Appendino und galt deshalb als gesetzt.
Mailand: In der lombrdischen Hauptstadt sah es lange Zeit nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Schliesslich konnte der sozialdemokratische Kandidat Beppe Sala seine Haut retten. 51,7 Prozent der Stimmenden gaben die Stimme für ihn ab.
Sala (Bild) gilt als Vater der letztjährigen Mailänder Weltausstellung. Er war als Favorit in den ersten Wahlgang gegangen, eroberte aber zur Überraschung aller nur ein winziges Prozent mehr als der rechtsgerichtete Kandidat Stefano Parisi. Mailand war die einzige grosse Stadt, in der sich die Rechte einigen konnte und einen Kandidaten in die Stichwahl brachte. Hätte der sozialdemokratische Partito Democratico neben Rom und Turin auch Mailand verloren, wäre das eine bittere Niederlage auch für Renzi gewesen.
Das „rote“ Bologna bleibt rot: Der Sozialdemokrat Virginio Merola schlägt mit 54,6 Prozent die 40-jährige Lega-Kandidatin Lucia Borgonzoni. Merola warf Borgonzoni vor, „eine rassistische Lega-Frau“ zu sein, „die Bologna nicht will“.
Neapel: Der bisherige Bürgermeister Luigi De Magistris vom linken „Movimento Arancione“ gewinnt gegen Gianni Lettieri, den Kandidaten eines von Berlusconis Forza Italia unterstützten Mitte-rechts-Bündnisses. De Magistris Bewegung steht weit links von Renzis Partito Democratico. Beide sind zerstritten. De Magistris erhielt 66,8 Prozent der Stimmen.
Triest: Der bisherige Bürgermeister Roberto Cosolini von Renzis Partito Democratico erzielt 52,6 Prozent der Stimmen und bleibt im Amt. Herausgefordert worden war er vom früheren Bürgermeister Roberto Dipiazza, der für die NCD, die Nuovo Centrodestra, die sich von Berlusconis Forza Italia abspaltete, antrat.
Kein Ersatz für Renzi in Sicht
Renzis Niederlagen in Rom und Turin könnten sich auf die Volksabstimmung über die geplante Verfassungsänderung auswirken. Dieses Referendum gilt als eines der Filet-Stücke von Renzis Politik und soll im Oktober stattfinden. Ziel ist es, die Befugnisse des Senats, der zweiten Kammer, drastisch zu reduzieren. Damit würde faktisch das lähmende Zweikammersystem abgeschafft. Auch Berlusconi hatte sich für eine solche Abschaffung ausgesprochen, sich dann aber plötzlich gegen den Ministerpräsidenten gestellt. Auch innerhalb der Linken ist die Verfassungsreform umstritten. Renzi sagte, wenn die Vorlage nicht angenommen wird, werde er zurücktreten.
Das wäre im jetzigen Zeitpunkt eine Katastrophe für das Land, denn ein halbwegs valabler Ersatzkandidat bietet sich nirgends an: weder auf der Linken, noch in der Mitte. Und auf der Rechten schon gar nicht.