Überall Schlaglöcher, Hundekot, Berge von Abfällen. Die Mafia breitet sich immer mehr aus. Aggressive Banden treiben ihr Unwesen. Häuser verfallen, Läden schliessen, die Busse sind überfüllt, dicker Smog in Strassen und Gassen, grässliche Zustände in den Spitälern. Auch in guten Quartieren herrscht Notstand.
Die Linke und die Rechte haben Rom heruntergewirtschaftet. Vor allem die Rechte: Unter dem früheren Bürgermeister Gianni Alemanno, einem Ex-Faschisten, haben die Verbrecher-Syndikate an Boden gewonnen. Rom ist zur „Mafia capitale“ geworden. So nennen heute die Römer ihre Stadt. Alemanno steht nun vor Gericht.
Renzi verfolgt die Wahl mit Sorge
Dem römischen Mief den Garaus machen – das will die 37-jährige Virginia Raggi, Anwältin und Mutter eines siebenjährigen Sohnes. Sie kandidiert für die Bürgermeister-Wahlen vom 5. Juni. Laut Meinungsumfragen liegt sie klar vorn. Ministerpräsident Matteo Renzi verfolgt die Wahl mit Sorge.
Virginia Raggi ist Mitglied der Protestbewegung „Movimento Cinque Stelle“ (M5S) des Komikers und Politikers Beppe Grillo. Würde sie gewählt, gäbe dies wohl den „5 Sternen“ landesweit Auftrieb. Nach einem Sieg in Rom, so hofft Beppe Grillo, könnte seine Bewegung bald Matteo Renzi und seine Sozialdemokraten vom Sockel stürzen. Tatsächlich sind die „Cinque stelle“ bis auf rund vier Prozentpunkte an die Sozialdemokraten herangerückt.
Grillo, bisher nichts gleistet
Zwar sind auch die Sozialdemokraten eine heterogene Horde, doch ein solch unberechenbarer Klüngel wie die Fünf Sterne sind sie nicht. Dem charismatischen Beppe Grillo gelingt es, die Schlagzeilen der Medien zu prägen, doch konkret geleistet hat er bisher nichts. Dies vor allem deshalb nicht, weil er stur auf Opposition macht und keine Allianzen oder Kompromisse mit andern sucht. Reflexartig ist er gegen die andern, gegen jene, die „das Land in den Mief gewirtschaftet haben“. Und natürlich ist er gegen den Euro und die EU. Er ist weder rechts, noch links, er ist alles, er ist Grillo.
Der Sterne-Dinosaurier mit dem Wuschelkopf führt sich oft recht selbstherrlich auf. Jene in der Partei, die ihm nicht genehm sind, wirft er raus. Nicht allen gefällt sein Führungsstil. Auch einige Parlamentarier haben ihm den Rücken gekehrt. Sein Instrument ist das Internet. Viele Beschlüsse werden durch Internet-Umfragen gefällt - es sei denn, er, der Chef, entscheidet selbst. Auch wenn er einst an die Macht käme, will er per Mausklick regieren. Braucht es dann überhaupt noch ein Parlament?
Sie ist kein Schreihals
Grillos populistische Tiraden gegen „die Parteien und die Machthaber“ stossen bei über einem Viertel der Italiener auf Sympathien. Auch in Italien gewinnt man nur Wahlen, wenn man jene, die an der Regierung sind, frontal angreift und Neues verspricht. Berlusconi hat das getan, und Renzi sagte, er wolle das alte Italien „verschrotten“.
Auch Virginia Raggi verspricht eine neue Politik. Und im geschändeten Rom fallen ihre Worte auf fruchtbaren Boden. Die Stadt lechzt nach Besserung. Doch im Gegensatz zu Grillo ist Raggi kein Schreihals. Sie gehört zu den ruhigen und vernünftigen Sterne-Politikern. Bereits hat sie ein Team aus Experten um sich gebildet und eine Road Map ausgearbeitet. Sollte es ihr gelingen, in Rom etwas Ordnung zu schaffen und die Mafia zurückzudrängen, wie sie verspricht, gäbe das Grillo sicher Auftrieb. Raggi wäre landesweit das erste 5 Sterne-Mitglied, das ein anspruchsvolles Amt übernimmt. Doch auch sie weiss, es ist einfacher Oppositionspolitik zu machen, als selbst etwas zu leisten.
Die Rache der Korrupten
Da lauert für Grillo eine Gefahr: Bisher polterte er nur. Verantwortung übernahm er nirgends. Würde Virginia Raggi gewählt, würde zum ersten Mal eine 5-Sterne-Politikerin an Resultaten gemessen. Würde es ihr nicht schnell gelingen, die Hauptstadt zu zumindest teilweise zu sanieren, würde dies auf ihre ganze Bewegung zurückfallen. Dann würde es heissen: Seht, auch die Fünf Sterne taugen nichts. Statt Auftrieb zu erhalten, stünde Grillo dann unter der kalten Dusche.
Und noch ist keineswegs sicher, dass es Raggi gelingen könnte, Rom zu sanieren. Sollte sie gewählt werden, wird sie nicht überall mit offenen Armen empfangen. Wer gegen die Mafia, die Korruption und die Privilegien der Mächtigen kämpft, provoziert Widerstand. Das musste schon der bisherige Bürgermeister, der Sozialdemokrat Ignazio Marino erfahren. Mit seinem Kampf für ein besseres Rom provozierte er die Rache der Korrupten. Bummelstreiks legten die Stadt fast lahm. Nicht nur die Müllabfuhr und die Angestellten des öffentlichen Verkehrs beteiligten sich daran – auch die Polizei.
Stichwahl am 19. Juni
Noch ist nicht sicher, ob Virginia Raggi auf das Kapitol ziehen wird, wo im Senatorenpalast der Bürgermeister (oder bald einmal die Bürgermeisterin?) regiert. Um gewählt zu werden, braucht es im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit. Die beiden Bestplatzierten gehen dann am 19. Juni in die Stichwahl.
Laut der jüngsten Umfrage des Forschungsinstituts Demos für die Zeitung „La Repubblica“ kommt Raggi auf 30,5 Prozent der Stimmen.
- Auf Renzis Kandidaten, den 55-jährigen Roberto Giachetti vom sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) entfallen laut der Umfrage 24,5 Prozent.
- Die 39-jährige Giorgia Meloni, Kandidatin der postfaschistischen Partei „Fratelli d’Italia“ und Jugendministerin in der vierten Regierung Berlusconi, käme auf 23,1 Prozent. Sie wird auch von der Lega Nord unterstützt.
- Berlusconis Kandidat, der 51-jährige Alfio Marchini, Millionär, Unternehmer und bekannter Polo-Spieler, fällt mit 11,4 Prozent ab. Er wird wohl kaum in die Stichwahl gelangen. Marchini wird auch von der winzigen neuen Mitte-Rechts-Partei NCD unterstützt – und von Kreisen, die weit rechtsaussen stehen.
Die rechten Stimmen bündeln
Daniela Santanchè, die streitbare Forza Italia-Politikerin und früheres Mitglied der postfaschistischen Alleanza Nazionale, forderte Berlusconi bereits auf, Marchini fallenzulassen und für Giorgia Meloni zu stimmen.
So sollen die rechten Stimmen gebündelt werden. Und so soll verhindert werden, dass die Rechte von der Stichwahl ausgeschlossen wird. Die Römer sollen nicht nur die Wahl zwischen der Fünf-Sterne-Kandidatin und einem Sozialdemokraten haben, sagt Santanchè.
"Rom ist kein Märchen"
Gewählt wird am kommenden Sonntag nicht nur in Rom. In 1'372 italienischen Gemeinden finden Wahlen statt, auch in Bologna, Mailand, Neapel und Turin. Renzi hat bereits gesagt, was alle sagen, wenn sie Rückschläge erwarten: Die Gemeindewahlen würden keinen Einfluss auf die Regierungsarbeit haben. Doch die Hauptstadt hat Symbolcharakter. Und dass Roberto Giachetti, Renzis Vertrauter in Rom, eventuell auf der Strecke bleibt, wird den Ministerpräsidenten schmerzen. Vor allem auch deshalb, weil Giachetti wohl am meisten Regierungserfahrung in Rom mitbringt.
Im Gegensatz zu Virginia Raggi. Ihre mangelnde Erfahrung wird ihr bereits vorgeworfen. Schon wird gespottet, dass sie für Velowege, Carsharing und die Anschaffung von Klimaanlagen in Bussen kämpft.
Raggi ist „wie Schneewittchen in einer Märchenwelt, die es nicht gibt“, höhnt Berlusconis Kandidat Alfio Marchetti. „Doch Rom ist kein Märchen, sondern ein Desaster“.
Virginia Raggi antwortet: „Das Schneewittchen wird euch das Fürchten lehren“.