Benito Mussolini tritt auf den Balkon des Palazzo Venezia im Zentrum von Rom. Hunderttausend Italiener jubeln ihm zu. Das war am 9. Mai 1936 – vor 80 Jahren.
Die Eroberung Abessiniens, die der Duce hier verkündet, gehört zu den scheusslichsten Episoden der Weltgeschichte. Vier Tage vor Mussolinis Triumph-Rede waren italienische Truppen in Addis Abeba, der Hauptstadt Abessiniens (dem heutigen Äthiopien), einmarschiert. Seinem Traum von einem neuen Regnum Romanum ist „Benito, der Cäsar“ einen Schritt näher gerückt.
Trittbrettfahrer?
Der italienischen Geschichtsschreibung ist es gelungen, die Italiener immer ein bisschen als Opfer von Hitlers harter Hand darzustellen. „Wir waren eben Trittbrettfahrer, Nachläufer, wir wurden gezwungen“, sagen viele Italiener noch heute. Doch das stimmt nur teilweise.
Der deutsche Historiker und Faschismus-Experte Gerhard Feldbauer schreibt, der Mussolini-Faschismus habe in den 20er und bis in die 30er Jahre hinein „eine internationale Vorreiterrolle“ gespielt. Hitler habe einiges von Mussolini übernommen.
Auch die italienische Rassenideologie wurde schon früh durchgesetzt. Danach gibt es neben den Herrenmenschen nur Leute ohne jegliche Rechte. Sie haben nicht einmal das Recht auf Leben. Die Annahme, die italienischen Rassengesetze seien auf Druck Hitlers entstanden, entbehrten jeglicher Grundlage, schreibt die Historikerin Gabriele Schneider in ihrem Buch „Mussolini in Afrika“ (2000). In seinem Staat habe keineswegs ein Faschismus ohne Rassismus geherrscht, wie oft behauptet würde.
Genozid-ähnlich
Das Morden in Abessinien war nur der Höhepunkt der italienischen Kriegsverbrechen in Afrika, die schon in den Zwanzigerjahren begannen - kurz nach Mussolinis Machtergreifung.
1925 eroberten italienische Truppen die libysche Grossprovinz Tripolitanien, 1929 folgte Fessan und 1930 die Cyrenaika. In ganz Libyen wüteten Italiener wie Barbaren. 800'000 Nomaden wurden in Konzentrationslager gesteckt. Es kam zu genozid-ähnlichen Massenerschiessungen. Zehntausende Frauen wurden vergewaltigt oder verstümmelt. Heiligtümer der Nomaden wurden geschändet. Laut dem amerikanisch-italienischen Schriftsteller und Journalisten Eric Salerno wurde in der Cyrenaika bereits Giftgas eingesetzt. Der libysche Freiheitskämpfer Umar al-Muchtar wurde am 16. September 1931 öffentlich gehängt. 20'000 Libyer wurden zusammengetrieben und mussten der Exekution zusehen.
Mit der Hitler-Angst im Nacken
Dass Mussolini nach Abessinien griff, war vorauszusehen. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts waren das angrenzende Eritrea und Somalia italienische Kolonien geworden. Dorthin schickte Mussolini schon Anfang 1935 fast 400'000 italienische Soldaten. Generalstabchef Marschall Pietro Badoglio erhielt vom Duce den Befehl, die Invasion vorzubereiten.
Doch Grossbritannien und Frankreich reagierten passiv. Sie, mit der Hitler-Angst im Nacken, glaubten noch immer, Italien im Kampf gegen die Nazis auf ihre Seite ziehen zu können. So liessen sie Mussolini gewähren. Dazu kam, dass die Tories in London zunächst offene Sympathien für den Duce hatten. Churchill schreibt in seinen Memoiren: „Jedermann (im Foreign Office) legte so grossen Wert auf Mussolinis Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit Deutschland, dass es unangebracht schien, ihm in diesem Augenblick eine Warnung wegen Abessinien zu erteilen“. Das britische Aussenministerium erklärte gar, Mussolinis Italien habe „das Recht auf Expansion“.
Kaum wahrgenommener Überfall
Das liess sich der Duce nicht zwei Mal sagen: Von Eritrea aus drangen am 3. Oktober 1935 die italienischen Truppen in Abessinien (im Ogaden) ein – ohne Kriegserklärung.
Der Überfall fand im Schatten schwerwiegender Ereignisse in Europa statt. Deshalb wurde er zunächst entweder kaum wahrgenommen oder heruntergespielt. Die Weltöffentlichkeit richtete jetzt ihren Blick nach Deutschland, wo Hitler den Versailler Vertrag in der Luft zerriss, die Wehrpflicht einführte und das entmilitarisierte Rheinland militärisch besetzte.
Der Völkerbund reagierte zahm, verhängte lächerliche Sanktionen und überliess das Völkerbund-Mitglied Abessinien seinem Schicksal. Auch Washington verhielt sich recht still. Einzig die Sowjetunion forderte eine harte Bestrafung Italiens – ohne Konsequenzen. Dass dann Mussolini doch auf die Seite Hitlers wechselte, bezeichnete Churchill als „schweren Schlag“, der „meine Gedanken bedrückte“.
Italienische Soldaten - "der Spott der Welt"
Trotz des überlegenen Einsatzes von Kampfflugzeugen, Panzern und Artillerie tat sich die Mussolini-Armee schwer. Die abessinischen Verbände stellten sich den Italienern erst im Landesinnern und gingen gar zur Gegenoffensive über.
Einmal mehr zeigte sich, dass die Italiener schlechte Soldaten sind. Das hatten sie in Abessinien schon 1896 bewiesen. Damals, in der Schlacht bei der nordäthiopischen Stadt Adua, erlitten die Italiener eine „schmachvolle Niederlage“, wie Churchill schreibt, und ernteten den „Spott der Welt“, der „in den Herzen aller Italiener nagte“. Mussolini, so Churchill, wollte nun „seine Männlichkeit mit der Rache für Adua beweisen“.
Doch nicht nur: Der neue Cäsar Italiens hatte Grossmachtsträume. Schon am 6. Juli 1935 rief er seinen Soldaten zu: „Wir pfeifen auf alle Neger ... Es wird nicht lange dauern und die fünf Erdteile werden ihr Haupt vor dem faschistischen Willen beugen“.
350 Tonnen Giftgas
Noch war man weit davon entfernt. Weil der italienische Angriff ins Stocken geriet, entliess Mussolini nach nur 45 Kriegstagen den verantwortlichen General de Bono und ersetzte ihn mit Feldmarschall Badoglio.
Jetzt begann die schrecklichste Phase im Krieg. Badoglio liess zwischen Dezember und April 1936 350 Tonnen Giftgas (Senfgas) abwerfen. Laut äthiopischen Angaben starben dabei 275'000 Menschen, vor allem Zivilisten. Mit dem Abwurf von Senfgas brach Mussolini das internationale Genfer Protokoll vom 17. Juni 1925, das den Einsatz chemischer Waffen verbietet.
Das Yperit (Senfgas) brachte die Wende. Die äthiopische Armee brach zusammen. Kaiser Haile Selassie flüchtete am 2. Mai mit dem Staatsschatz, mit dem er den Widerstrand finanziert hatte, nach London.
"Das Licht der Zivilisation"
Am 5. Mai 1936 zog Badoglio mit seinen Truppen in Addis Abeba ein, und am 9. Mai triumphierte Mussolini auf dem Balkon seines Amtssitzes, des Palazzo Venezia in Rom.
Jetzt stand Mussolini auf dem Höhepunkt seiner Macht. Vittorio Emanuele III. war nun nicht nur König von Italien, sondern auch Kaiser von Abessinien. Später sollte er dann noch König von Albanien werden.
Am 1. Juni 1936 vereinigte Mussolini Abessinien mit Eritrea und Italienisch-Somaliland (dem heutigen Somalia, nicht zu verwechseln mit dem heutigen, einst britischen Somaliland) zu "Italienisch Ostafrika". Papst Pius XI. jubelte und zwang den koptischen Äthiopiern den Katholizismus auf. Mussolini trage „das Kreuz Christi in alle Welt hinaus“, frohlockten Italiener. „Das Licht der Zivilisation“ wird nach Abessinien getragen, freute sich der Mailänder Kardinal Schuster.
Erbarmungslos
Dieses Licht der Zivilisation bestand aus Massakern, Plünderungen und Vergewaltigungen. Die Mailänder Zeitung „La Domenica del Corriere“ veröffentlichte am 27. Dezember 1936 eine Zeichnung, auf der die schwarze Bevölkerung der gehissten italienischen Flagge zujubelt. Im Kommentar heisst es: „Alle Territorien des Kaiserreichs sind besetzt. Die unterworfene Bevölkerung grüsst die Trikolore“.
Doch so war es nicht: Auch nach Mussolinis Triumph-Rede kontrollierten die Italiener nur Teile des Landes. Vor allem in den Wüstengebieten und in den Bergen wurden sie immer wieder von abessinischen Freiheitskämpfern angegriffen. Italien reagierte erbarmungslos. Menschen wurden zusammengetrieben und erschossen. Zivilisten wurden gefoltert und erschlagen, ihre Hütten niedergebrannt, Felder wurden angezündet, das Vieh niedergemetzelt. Krankenstationen des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes wurden bewusst bombardiert und mit Artillerie beschossen. Konzentrationslager wurden eingerichtet, und wieder wurde Giftgas eingesetzt. Selbst 1600 Mönche und Pilger des Klosters Debra Libanòs wurden erschossen. Tausend Menschen, die sich in einer Höhle in Debre Birhan versteckten, wurden im April 1937 förmlich ausgerottet. Nach einem misslungenen Attentat auf Marschall Rodolfo Graziani wurden am 19. Februar 1937 30'000 Menschen liquidiert.
Eine Million Tote?
1941 wurden die Italiener von britischen und abessinischen Truppen, die mit Haile Selassie ins Exil gegangen waren, aus Abessinien vertrieben. Aus der Traum vom ostafrikanischen italienischen Kaiserreich. Im Mai 1941 zog Haile Selassie wieder in Addis Abeba ein.
Der Abessinien-Krieg hat je nach Quelle zwischen 350'000 und 760'000 Tote gekostet. Das amerikanische "Ethiopian Holocaust Remembrance Commitee" spricht von mindestens einer Million Toten. Keiner der Täter musste vor ein internationales Gericht erscheinen und wurde bestraft. Ein „Nürnberg“ für Italien gab es nicht.
"Die schwärzeste Seite der italienischen Geschichte"
Der italienische Historiker Angelo Del Boca sagt heute, lange Zeit hätten die Italiener ihre koloniale Vergangenheit nicht nur ignoriert, sondern schlimmer noch „sie glaubten, im Gegensatz zu andern Kolonialmächten ein tugendhaftes Modell gewesen zu sein“. Der in Luzern lehrende Professor Aram Mattioli schreibt, viele Italiener über 40 glaubten bis heute, „dass auch der faschistische Kolonialismus grundsätzlich anders und vor allem besser war als jener der anderen europäischen Staaten“. Mattioli zitiert Giorgio Bocca. Selbst dieser linke Publizist habe noch 1995 erklärt, dass „wir den Kolonien mehr gegeben, als bekommen haben“.
Aber, so Mattioli weiter: „Zweifellos gehören die faschistischen Kolonialverbrechen zu den schwärzesten Seiten der italienischen Geschichte“.
"Abessinien, was ist das?"
Zwar gab Verteidigungsminister Domenico Corcione 1996 erstmals den massiven Einsatz von Giftgas in Abessinien zu. Und Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro reiste 1997 nach Äthiopien und Eritrea und entschuldigte sich für die Kriegsverbrechen. Doch das war’s dann. Eine Aufarbeitung der italienischen Kriegsverbrechen in Abessinien findet in den Medien und in der breiten Öffentlichkeit kaum statt - auch zum 80. Jahrestag nicht. Die meisten jungen Italiener wissen gar nicht, dass Italien einmal Kolonien besass – und befragt man sie zu Abessinien, so erhält man die Antwort: "Abessinien, was ist das?" Im Geschichtsunterricht fehlt das Thema oft ganz. Die italienischen Medien feiern in diesen Tagen mit grosser Aufmachung den 70. Geburtstag der Vespa. Vom 80. Jahrestag des Einmarsches in Addis Abeba: kaum eine Zeile.
Italien versucht, jenen mörderischen Feldzug, jene Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Selbst der Vatikan ist nicht sehr gesprächsfreudig, wenn es um Abessinien geht.
Epilog
Im Juli 1943 wurde Mussolini gestürzt und festgenommen. Nach seiner Befreiung durch deutsche Verbände stand er als „lame duck“ unter deutscher Protektion von 1943 bis 1945 an der Spitze der „Republik Salò“ am Gardasee. Am 28. April 1945 wird er erschossen und dann auf dem Piazzale Loreto in Mailand an den Füssen aufgehängt.
Literatur
Angelo Del Boca: La Guerra d’Abessinia, Milano 1965
Angelo Del Boca in „Il Fatto Quotidiano“ 28.08.2015.
Winston Churchill: Der Zweite Weltkrieg, Alfred Scherz Verlag, Bern, 1954
Gerhard Feldbauer: Geschichte Italiens, Vom Risorgimento bis heute, PapyRossa, 2008
Aram Mattioli: „Viva Mussolini“, Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis, NZZ Libro 2010
Eric Salerno: Genocidio in Libia. Le atrocità nascoste dell'avventura coloniale italiana (1911-1931), Manifestolibri 2005
Gabriele Schneider: Mussolini in Afrika, SH Verlag Köln, 2000
Hans Woller: Der erste Faschist, C.H. Beck Verlag 2016