Lesen Sie auch den gestern publizierten ersten Teil des Interviews "Niemand will die Schweiz fertig machen"
"Journal 21": Der gute Ruf, den die Schweiz noch immer hat, gründet auch in ihrer humanitären Tradition. Sie haben in Ihrer langen Diplomaten-Tätigkeit mit Hunderten, vielleicht Tausenden ausländischer Diplomaten gesprochen. Ist diese schweizerische humanitäre Tradition im Ausland wirklich so verankert, wie wir Schweizer glauben?
Peter Maurer: Die humanitäre Tradition der Schweiz hat unter ausländischen Diplomaten ein sehr hohes Ranking. Sie gehört zu den fünf oder sechs positiv besetzten Themen, die man mit der Schweiz verbindet. Zwar versuchen die Schweiz und das IKRK immer wieder zu erklären, dass sie völlig unabhängig voneinander sind. Trotzdem wird im Ausland das IKRK mit seinem Hauptsitz in Genf oft als sehr schweizerisch und als schweizerische Organisation betrachtet.
Verblasst das Image der humanitären Schweiz nicht ein wenig?
Insgesamt wird die Schweiz durch ihre Diplomatie in der UNO und in Genf als ein Land wahrgenommen, das bei humanitären Fragen eine sehr hohe Glaubwürdigkeit hat. Doch die Schweiz gehört bei weitem nicht mehr zu den grossen Geldgebern für humanitäre Hilfe. Ihre Bedeutung hat in den letzten Jahren abgenommen. Vor zwanzig Jahren waren wir der achtgrösste Geldgeber für humanitäre Aktionen, heute stehen wir etwa an 15. Stelle. Viele Schweizer sind überrascht, wenn wir ihnen sagen, dass wir nur noch 15. sind. Viele sind auch überrascht, wenn sie erfahren, dass es auch andere Länder gibt, die sehr gute humanitäre Aktivitäten entfalten.
Sollte die Schweiz auf humanitärem Gebiet mehr tun?
Die Schweiz tut schon einiges. Beim IKRK, dem ich jetzt dann vorstehe, sind wir die dritt- oder viertgrössten Geldgeber. Manchmal besteht bei uns die Gefahr, dass wir uns auf den Lorbeeren ausruhen. Wir glauben, dass wir die humanitäre Wiege sind. Es ist fast wie in der Uhrenindustrie vor der Krise in den Siebzigerjahren. Man hat das Gefühl, man sei grösser als man ist.
Viele Leute in Genf glauben immer noch, ihre Stadt sei die humanitäre Hauptstadt der Welt. Genf bleibt ein wichtiges humanitäres Zentrum, doch es gibt heute viele humanitäre Aktivitäten, die nicht in Genf stattfinden und die nicht über Genf laufen.
Wir haben in humanitären Angelegenheiten eine hohe Glaubwürdigkeit, Kompetenz und Tradition. Doch wir sind nicht mehr die Einzigen. Das ist auch eine Herausforderung. Wir müssen Allianzen finden. Wir dürfen nicht einfach kommen und sagen: „Da sind wir, wir wissen, wie es geht.“ Andere wissen auch viel und haben interessante Vorstellungen. Wir müssen darauf hinarbeiten, wie man die humanitären Aktivitäten und die Entwicklung des humanitären Völkerrechts weiterentwickeln kann, und zwar zusammen mit andern.
Man sagt uns immer, das IKRK sei ein wichtiges aussenpolitisches Instrument der Schweiz. Ist das nicht eine Plattitüde?
Ich hoffe, ich habe nie gesagt, das IKRK sei ein Instrument der schweizerischen Aussenpolitik. Wir haben ein grosses Interesse daran, dass das IKRK unabhängig ist und nicht von der Schweiz instrumentalisiert wird. Das ist auch wichtig für die andern Geberländer. Die Schweiz stellt dem IKRK Mittel zur Verfügung, damit es sein Mandat unabhängig wahrnehmen kann. Doch eine Vereinnahmung durch die schweizerische Politik darf es nicht geben. Es ist wichtig, dass die Schweiz auch in Zukunft eng mit dem IKRK zusammenarbeitet. Für die Schweiz ist es neben den UNO-Organisationen der wichtigste Partner im humanitären Bereich.
Der Spitzendiplomat Peter Maurer verlässt nach 25 Jahren den Bund und wird jetzt Präsident des IKRK. Sind Sie der Diplomatie überdrüssig geworden?
Seit ich in die höheren Mittelschulen gegangen bin, habe ich mich für Aussenpolitik, internationale Beziehungen und Diplomatie interessiert. Das habe ich nachher zu meinem Beruf gemacht. Ich hoffe, dass ich jetzt zumindest einen Teil von meiner Erfahrung und meinem Wissen dem IKRK zukommen lassen kann.
Ich bin der Diplomatie nicht überdrüssig. Ich bin nicht frustriert, ich habe keinen Cafard. Es reizt mich, etwas Neues zu tun. So wie es viele Leute reizt, nach 25 Jahren etwas anderes im Leben zu tun.
Ich habe immer gerne auch auf dem Terrain gearbeitet. Ich bin sehr gerne in Südafrika in die Townships gegangen und habe dort Kleinprojekte betreut, und ich habe den Rahmenkredit für die Friedens- und Menschenrechtspolitik betreut. Andrerseits bin ich als Diplomat viel in Konferenz- und Verhandlungsräumen gesessen. Ich mache beides gern. Beim IKRK werde ich auch beides brauchen können. Ich hoffe, dass die Erfahrung, die ich in der multinationalen Diplomatie gesammelt habe, dem IKRK zugutekommen wird.
Das IKRK war während Jahrzehnten in vielen Konfliktgebieten, die einzige tätige internationale Organisation. Heute ist das anders. Es gibt Dutzende anderer Organisationen, die vermitteln und helfen. Ist das IKRK damit abgewertet?
Es gibt viele humanitäre Akteure. Das bedeutet nicht, dass es viele gibt, die an schwierigen Orten auf der Welt wirklich Zugang und die Möglichkeit haben, die Zivilbevölkerung zu unterstützen. Das IKRK hat diese Möglichkeit an vielen Orten, weil es von der Staatengemeinschaft ein Mandat hat – ein Mandat, das in den Genfer Konventionen festgeschrieben ist.
Wollen Sie die Zusammenarbeit mit andern verstärken?
Das IKRK hat viele wichtige Spezifitäten. Aber es darf sich nicht ausruhen auf diesen Spezifitäten. Heute schauen die Länder, die Geld geben, zu Recht sehr genau darauf, wer die beste Arbeit leistet. Oft leistet die eigene Organisation die beste Arbeit. Manchmal liegt die beste Arbeit aber auch darin, dass man gut mit andern zusammenarbeitet. Das ist eine der grossen Herausforderungen im humanitären Bereich: seine eigenen Stärken einbringen und auf der andern Seite kooperationsfähig sein, und zwar mit Akteuren, die auch sehr gute Arbeit leisten, zum Beispiel mit Médecins sans frontières, um nur ein Beispiel zu nennen.
Das IKRK ist eine Riesenorganisation geworden mit 13‘000 Mitarbeitenden und einem Budget von 1,2 Milliarden Dollar. Besteht nicht die Gefahr einer Verzettelung?
Grösse und Wachstum sind in keiner Organisation à priori positiv. Doch die humanitären Bedürfnisse sind gewachsen. Und das IKRK ist diesen wachsenden Bedürfnissen nachgekommen.
Das wirkliche Problem ist nicht die Grösse des IKRK. Das wirkliche Problem sind die schweren Konflikte, die heute stattfinden, und die Masse der Zivilbevölkerung, die der Gewalt schutzlos ausgesetzt ist.
Es gibt immer wieder Leute, die sagen, alles sei zu gross, man hätte keine Prioritäten, es gebe Doppelspurigkeiten, Verzettelungen. Doch wenn man dann die Details analysiert, findet man selten Doppelspurigkeiten und Verzettelungen. Man redet nie davon, dass die Probleme gross sind.
Welche Gefahren lauern in einer solchen Riesenorganisation
Die grösste Gefahr ist, dass man sich nicht immer wieder fragt, wie kann man mit dem Geld, mit den Mitteln, die man zur Verfügung hat, die Dinge nicht noch besser machen.
Die vier Genfer Konventionen und die zwei Zusatzprotokolle sind doch eher von westlichen Werten geprägt. Ist es nicht hoffnungslos, den Taliban oder den Shabab-Milizen in Somalia solche westliche Werte zu vermitteln?
Es ist falsch zu sagen, dass dieses Regelwerk nur von westlichen Werten geprägt ist. Die breite globale Verankerung ist ja gerade seine Stärke. Es ist aber durch neue Entwicklungen und Akteure herausgefordert und muss in neuen Kontexten umgesetzt und allenfalls weiterentwickelt werden.
Wichtig ist in einer humanitären Perspektive, dass wir in unseren Bemühungen, Leiden zu verhindern, niemanden ausschliessen, dass wir nicht pauschal sanktionieren und stigmatisieren. Wir haben nur Erfolg, wenn wir auf alle zugehen, alle Kriegsparteien zu überzeugen versuchen. Wir dürfen nicht sagen: „Die sind ja so brutal, mit denen sprechen wir nicht.“ Wir können die Leiden nur lindern, wenn wir mit allen sprechen, die sie verursachen.
Auch mit den Shabab-Milizen?
Auch mit den Shabab-Milizen.
Auch mit den Taliban?
Auch mit den Taliban und andern Akteuren in nicht-staatlichen bewaffneten Konflikten, wenn es um humanitäre Aktion und die Einhaltung humanitärer Normen geht.
(Das Gespräch führte Heiner Hug)
Zur Person: Peter Maurer wurde 1956 in Thun geboren. Er schloss seine Studien in Bern mit dem Doktorat der Geschichte bei Professor Walther Hofer ab. 1987 trat er in den Dienst des EDA ein. 2000 ernannte ihn der Bundesrat zum Botschafter und Chef der Politischen Abteilung IV. 2004 wurde er Botschafter und Chef der Ständigen Mission der Schweiz bei der UNO in New York. 2010 wurde er als Nachfolger von Michael Ambühl Staatssekretär im EDA. Peter Maurer tritt sein Amt als Präsident des IKRK im Juli an.
Lesen Sie aus den ersten Teil des Interviews: "Niemand will die Schweiz fertig machen