„Und aber, fürchtest Du von einem
Volk Verrat, so schleudre gerade gegen sie!
Denn Gott liebt nicht die Verräter."
Dieser Vers aus der Koransure „Anfal“ war Motiv dafür, daß Saddam einen seiner Feldzüge gegen die Kurden „Anfal“ nannte. Anfal bedeutet so viel wie Beute. Die Sure Anfal behandelt die Frage, wie die Beute aufzuteilen sei, die nach einer siegreichen Schlacht anfiel.
Jetzt, 25 Jahre später, legen kurdische Frauen Zeugnis ab über die Schreckenstage von damals. Die Nicht-Regierungsorganisation „Haukari“ (Solidarität), die in Kurdistan Projekte zur Unterstützung traumatisierter Frauen organisiert, lud jetzt in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin kurdische Frauen und Überlebende der Massaker in Ruanda und Bosnien zu einer Tagung ein.
Aufgeweichte Stammesgesellschaft
Sie alle hatten Erstaunliches zu berichten. Tenor: wir haben ohne unsere ermordeten Männer überlebt, wir haben, unter schwierigsten Bedingungen, unsere Kinder groß gezogen, wir haben uns einen Platz in den von Männern dominierten Gesellschaften erstritten und dadurch die streng hierarchische Stammesgesellschaft ein wenig aufgeweicht. Im Parlament der autonomen irakischen Provinz Kurdistan, so berichteten die Frauen, säßen jetzt 30 Prozent Frauen.
Die politische Position, welche die irakischen Kurden jetzt erreicht haben, ist wohl die beste in der langen Geschichte kurdisch-irakischer Auseinandersetzungen. Der Aufstand des Mustafa Barzani gegen die Zentralregierung in Bagdad von 1961 bis 1970 forderte fast 100 000 Tote. Als am 16. März 1988 in der Schlußphase des von Saddam Hussein gegen den Iran begonnenen ersten Golfkrieges irakisches Militär die kurdische Stadt Halabscha mit Giftgas angriffen, starben Tausende Kurden eines entsetzlichen Todes. Schon damals rechtfertigte sich das Regime in Bagdad mit der (sicher nicht ganz unbegründeten) Behauptung, daß sich manche irakische Kurden im ersten Golfkrieg auf die Seite des Iran geschlagen hätten.
Saddam Hussein, Verbündeter der USA
Das Massaker von Halabscha war ein Vorläufer der Anfal-Kampagne (manche Historiker setzen den Beginn dieser Massenmord-Kampagne auf das Jahr 1986). Hauptverantwortlicher war Ali Hassan al-Madschid, ein Cousin Saddam Husseins, später auch „Chemical Ali“ genannt. Al-Madschid wurde später, nach dem Fall des Regimes, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Durch Einsatz von Bodentruppen, durch Luftangriffe, durch systematische Hinrichtungen und durch den Einsatz von Giftgas wurden etwa 180 000 irakische Kurden getötet, 17 000 Menschen, meistens Männer, verschwanden spurlos. Viele sollten an der saudischen Grenze neu angesiedelt werden, die meisten von diesen wurden aber nie wieder gesehen. Die Anfal-Kampagne wird heute allgemein als Völkermord angesehen.
Das war nicht immer so. Saddam Hussein galt damals als Verbündeter der USA im Kampf gegen den von Ayatollah Chomeini beherrschten Iran. Deshalb vermieden die USA alles, was in einer internationalen Verurteilung des Regimes in Bagdad münden könnte. Jost R.Hiltermann von der „International Crisis Group“ schrieb damals: „Das bewußte amerikanische Herunterspielen der Ereignisse von Halabscha war das logische, wenn auch ungewollte Ergebnis einer prononcierten sechs Jahre dauernden Neigung zum Irak, der als ein Bollwerk gegen eine gefühlte Bedrohung durch den eifernden iranischen Islam galt.“
Ein Volk zeugungsunfähig machen
Die irakischen Kurdenkriege sind, vorerst wenigstens, vorbei. Doch die traumatischen Folgen wirken nach. Durch die Ermordung und Verschleppung Zehntausender von Jungen und Männern wollte Saddam Hussein das kurdische Volk, sozusagen, zeugungsunfähig machen, ein dämonisches Unterfangen, das in seiner ganzen Breite fehlgeschlagen ist.
Wollen die Frauen, die damals ihrer Männer beraubt wurden, heute physische Rache nehmen? Nein, denn einmal sind viele Täter nicht mehr zu finden. Aber sie haben einen tieferen Grund, von physischer Vergeltung abzusehen.
„Wir haben nicht nur überlebt“, sagt eine der Kurdinnen in Berlin, „wir leben sogar. Wir haben unsere Kinder aufgezogen. Viele von ihnen studieren, viele von ihnen haben geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt.“ In diesem neuen Leben sehen kurdische Frauen ihre Rache an den Tätern, denn, sagt eine: „Die Täter sehen jetzt, daß sie es nicht geschafft haben, uns, unsere Kinder, unsere Gesellschaft auszurotten.“
„Wo ich nicht getötet werde, fühle ich mich wohl“
Allerdings beklagen viele der Frauen, daß überlebende Täter in Kurdistan in guten Positionen lebten, von höheren Stellen gedeckt würden und sich so keinem Gerichtsprozess stellen müssten. “Rache nein“, sagen sie, „aber gerechte Strafe, ja.“
Zu den Frauen aus Kurdistan gesellten sich bei der Tagung in der Heinrich Böll-Stiftung auch überlebende Frauen aus Bosnien und Ruanda. Esther Mujavayo-Keiner aus Ruanda lebt jetzt in Berlin, ist mit einem Deutschen verheiratet, hat Bücher über ihre Leiden geschrieben und hat auch ihre zwei Töchter auf die Tagung mitgebracht. Nach dem Genozid an ihrem Volk war sie allein. Sie wollte nicht nur überleben, sondern auch leben. Sie fing an, ein Haus zu bauen, damals etwas ganz und gar Ungewöhnliches in ihrer männerdominierten Gesellschaft. „Wenn ich auf eine Leiter steigen würde, würden die Männer von unten in meine Privatsphäre schauen“, sagt sie. „Also begann ich Hosen zu tragen und fing an, mein Haus zu bauen.“
Und wie fühlt sie sich heute in Berlin?
Antwort: „Ich fühle mich überall dort wohl, wo ich nicht getötet werde.“